"Chronischer Botulismus"
Unter der Bezeichnung "chronischer Botulismus" wird von Teilen der Wissenschaft ein Geschehen in Rinderbeständen diskutiert. Bislang dient der Begriff jedoch lediglich als Hypothese zur Erklärung unspezifischer Krankheitserscheinungen – neue Forschungen laufen.
Seit einigen Jahren berichten wissenschaftliche Veröffentlichungen und Medien über den so genannten "chronischen" oder "viszeralen Botulismus" in einzelnen Rinderbeständen. Diskutiert wird dabei ein Zusammenhang mit dem Bakterium Clostridium botulinum.
Wissenschaftlicher Nachweis bislang nicht erbracht
Erste Veröffentlichungen beschreiben eine chronische Erkrankung unbekannten Ursprungs, die zunächst bei Hochleistungsrindern, später auch bei Kälbern aufgetreten ist. Bislang ist jedoch der ursächliche Zusammenhang zwischen der unspezifischen klinischen Symptomatik und dem Bakterium trotz intensiver Forschung nicht wissenschaftlich gesichert. Aus diesem Grund wird eher von einem Geschehen mit unspezifischen Krankheitserscheinungen denn von "chronischem Botulismus“ gesprochen.
Der Begriff "chronischer" oder "viszeraler" Botulismus diente in der Vergangenheit als Hypothese zur Erklärung von unspezifischen Symptomen wie Erkrankungen des Bewegungsapparates, Fruchtbarkeitsstörungen, Verdauungsprobleme, Schwäche, Auszehrung und Lähmungen bei einzelnen Tieren. Die Vermutung, dass das in der Umwelt überall vorkommende Bakterium Clostridium botulinum von Rindern mit dem Futter aufgenommen wird, sich im Darm dieser Tiere vermehrt und dort Toxine freisetzt, ist ebenso wenig wissenschaftlich gesichert wie die Hypothese, dass es sich um eine Faktorenerkrankung handeln könnte (siehe weiter unten "Weitere Studien zur wissenschaftlichen Erforschung").
Kein Gesundheitsrisiko für den Verbraucher
Das Bundesinstitut für Risikobewertung sieht nach dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Stand kein Gesundheitsrisiko durch tierisch erzeugte Lebensmittel im Zusammenhang mit dem sogenannten chronischen Botulismus.
Die Gewinnung von Fleisch durch Schlachten unterliegt in der gesamten EU strikten gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften. So dürfen Tiere, die im Rahmen der Schlachtuntersuchung klinische Anzeichen einer systematischen Erkrankung, Auszehrung oder Abmagerung aufweisen, nicht für den menschlichen Verzehr geschlachtet werden. Auch Milch darf nur von Tieren mit gutem allgemeinem Gesundheitszustand, nicht aber von Tieren mit klinischer Symptomatik als Lebensmittel gewonnen werden.
Zur Klarstellung: Klinisch erkrankte Tiere (egal an welcher Krankheit sie leiden) dürfen nicht in die Lebensmittelkette gelangen – hier ist die Rechtslage eindeutig. Da das Krankheitsbild beim sogenannten chronischen Botulismus überwiegend durch klinische Symptome gravierender Art beschrieben wird, ist nicht vorstellbar, dass Tiere, die als schwach, abgemagert und u. a. mit fiebrigen Entzündungen beschrieben werden, zur Schlachtung gekommen sein sollen. Für die Einhaltung dieser Bestimmungen tragen die Schlachtunternehmen die Verantwortung, die amtliche Überwachung und die Kontrollen an den Schlachthöfen führen die zuständigen Behörden der Bundesländer durch.
BSE und Botulismus haben nichts gemeinsam
Weil in den Medien vereinzelt Vergleiche zur Tierseuche BSE angestellt wurden, ist aus fachlicher Sicht zu betonen: BSE und das hier diskutierte Krankheitsbild haben nichts gemeinsam. BSE ist eine monokausale, auf ein infektiöses Agens zurückzuführende Krankheit und lässt sich durch labordiagnostisch standardisierte Tests eindeutig nachweisen. Hinsichtlich der klinischen Erscheinungen unterscheiden sich beide Krankheiten ebenfalls ganz grundlegend. Bei BSE stehen zentralnervöse Erscheinungen im Vordergrund.
Weitere Studien zur wissenschaftlichen Erforschung
Zu dem geschilderten Krankheitsbild gab und gibt es intensive Forschungsanstrengungen des Bundes und der Länder. Besonders das BMEL beschäftigt sich seit geraumer Zeit intensiv mit Fragen rund um den sogenannten chronischen Botulismus und hat dazu verschiedene Forschungsvorhaben angestoßen. So hat zum Beispiel ein vom Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) organisierter und durchgeführter Ringversuch gezeigt, dass die Ergebnisse zwischen den beteiligten Untersuchungseinrichtungen nicht direkt miteinander vergleichbar und damit auch nicht aussagekräftig sind. Hier besteht aus fachlicher Sicht erheblicher Verbesserungsbedarf im Hinblick auf die Qualität der Labordiagnostik. Eine belastbare und validierte Diagnostik ist nämlich Grundvoraussetzung für weitere Schritte.
Das frühere Bundesverbraucherschutzministerium hat deshalb weitere Mittel in erheblichem Umfang zur Erforschung der Bedeutung von Clostridium botulinum bei chronischen Krankheitsgeschehen bereitgestellt. Ein Forschungsauftrag dazu wurde an die Tierärztliche Hochschule Hannover vergeben; die Forschungen wurden Anfang 2012 begonnen und am 31. Mai 2014 abgeschlossen. Ziel der epidemiologischen Studie war es zu klären, inwieweit Clostridium botulinum und das entsprechende Neurotoxin in Beständen mit dem beschriebenen Krankheitsgeschehen und in gesunden Beständen eine Rolle spielten. Zudem hatte das Forschungsvorhaben auch zum Ziel, die Diagnostik zu verbessern. In die Studie wurden 139 Milchviehbetriebe in Norddeutschland einbezogen. Fallbetriebe mussten mindestens drei von fünf Auswahlkriterien (herabgesetzte Milchleistung, erhöhte Abgangsrate, erhöhte Rate von Todesfällen, erhöhtes Aufkommen von milchfieberartigem Festliegen, insgesamt erhöhte Krankheitsrate) erfüllen und wurden in Fall-1-Betriebe (F1 = keine Impfung, n=45) und Fall-2-Betriebe (F2 = Impfung gegen Clostridien, aber nicht gegen C. botulinum, n=47) eingeteilt. Diese wurden mit 47 Kontrollbetrieben verglichen. An den Tieren einer Herde wurden jeweils die Körperkondition, das Gangbild, der hygienische Zustand und die Gelenksbonitur erhoben.
Die Ergebnisse des Forschungsprojektes wurden Ende Mai 2014 von der Tierärztlichen Hochschule Hannover im Abschlussbericht zur Verfügung gestellt (pdf-Datei unter weitere Informationen).
Mittels verschiedener diagnostischer Verfahren wurden 2.776 Tier-, 411 Futtermittel- und 139 Wasserproben auf das Clostridium botulinum Neurotoxin (BoNT)-Gen untersucht. Im Rahmen der Untersuchungen wurden in 25 Betrieben (= 17,99 Prozent) und in diesen Betrieben bei 86 Tieren (= 6,19 Prozent) BoNT-Gene nachgewiesen. Unter Einbeziehung der am FLI durchgeführten weitergehenden Untersuchungen konnten in weiteren neun Betrieben (34 Betriebe (=24,46 Prozent)) und bei weiteren 33 Tieren (119 Tiere (=8,6 Prozent)) das BoNT-Gene nachgewiesen werden. Vor dem Hintergrund, dass der Nachweis von BoNT-Genen etwa zu gleichen Teilen in den betroffenen und gesunden Betrieben gelang (in Kontrollbetrieben 19,15 Prozent; in Fallbetrieben ohne Impfung 11,11 Prozent und in Fallbetrieben mit Impfung 23,40 Prozent), kommen die Verfasser der Studie zu dem Ergebnis, dass "mittels einfaktorieller univariater logistischer Regression ein direkter und deutlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten von C. botulinum und einem chronischen Krankheitsgeschehen auf Milchviehbetrieben oder bei Tieren nicht bestätigt werden kann."
Neben dem Toxin-Gennachweis wurde in den Untersuchungen der Tierärztlichen Hochschule Hannover auch versucht, C. botulinum kulturell nachzuweisen: lediglich in einem Kontrollbetrieb gelang der kulturelle Nachweis von C. botulinum Typ B.
Da die Hypothese des "viszeralen" oder "chronischen" Botulismus besagt, dass im Darm betroffener Tiere Clostridium botulinum Neurotoxin gebildet wird und die kontinuierliche Aufnahme des BoNT das Krankheitsbild verursacht, wurden in dem Forschungsprojekt 1388 Kotproben von Tieren aus betroffenen Betrieben und nicht betroffenen Kontrollbetrieben durch das FLI auf BoNT untersucht. Die Untersuchungen der Kotproben ergaben in keinem Fall einen Hinweis auf BoNT. Somit kann die Hypothese des "viszeralen" oder "chronischen" Botulismus nicht bestätigt werden.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis des Vorhabens ist, dass in den Fallbetrieben im Gegensatz zu den Kontrollbetrieben z. T. erhebliche Probleme bezüglich der Tiergesundheit aufgedeckt werden konnten. Es zeigte sich, dass Kühe in Fallbetrieben häufiger abgemagert und häufiger lahm waren, während Probleme mit der Eutergesundheit und der Fruchtbarkeit eher eine untergeordnete Rolle spielten. Als mögliche Ursache für die chronischen Herdengesundheitsprobleme konnten Faktoren in der Fütterung, im Bereich der Hygiene wie auch des Kuh-Komforts (Hautläsionen, Wiederkauindex) am deutlichsten identifiziert werden. Auffallend war die hohe Lahmheitsquote in den Fallbetrieben (etwa 66 Prozent der Betriebe waren nicht lahmheitsfrei; etwa 10 Prozent der Tiere in den Fallbetrieben zeigten eine so hochgradige Lahmheit, dass das betroffene Bein wenig oder gar nicht mehr belastet wurde!). Unabhängig von den möglichen Ursachen für ein chronisches Krankheitsgeschehen ist erwähnenswert, dass, so auch ein Ergebnis des Forschungsvorhabens, die untersuchten Milchviehbetriebe unabhängig von der Betriebskategorie offenbar bestimmte Mindestanforderungen im Bereich des Stallbaus, der Tierbelegung und der Sauberkeit der Tiere nicht erreichen. Hierzu gehört neben zu geringen Boxenbreiten auch eine weit verbreitete Überbelegung der Ställe.
Gibt es eine Entschädigung für Landwirte?
Zu vereinzelt geforderten Entschädigungen für Landwirte, deren Tierbestände betroffen sind, ist festzustellen: Landwirte haben nach bestehender Rechtslage grundsätzlich nur einen Anspruch auf eine Entschädigung, wenn von einer zuständigen Behörde im Rahmen der Seuchenbekämpfung die Tötung von Tieren angeordnet wurde. Da dies im Falle des so genannten "chronischen Botulismus" nicht der Fall ist, könnte eine Kompensation des finanziellen Schadens nur, soweit vorhanden, durch eine private Versicherung abgedeckt werden.
Das als "chronischer Botulismus" bezeichnete Krankheitsbild ist keine Tierseuche. Eine Tierseuche ist nach § 2 Nummer 1 Tiergesundheitsgesetz eine Infektion oder Krankheit, die von einem Tierseuchenerreger unmittelbar oder mittelbar verursacht wird und bei Tieren auftritt und auf Tiere oder Menschen (Zoonosen) übertragen werden kann. In diesem Sinne ist eine Tierseuche eine übertragbare Krankheit, die durch ein infektiöses Agens verursacht, auf natürlichem Wege übertragen wird und in bestimmten Gebieten zu einer bestimmten Zeit vermehrt auftritt. Grundvoraussetzung ist zunächst eine eindeutige labordiagnostische Diagnosestellung. Eine klinische Beschreibung allein reicht jedoch nicht aus, um eine Tierseuche zu definieren. Entsprechend fehlen die fachlichen und rechtlich notwendigen Kriterien zur Einführung einer Anzeige- und Meldepflicht für den "chronischen" oder "viszeralen" Botulismus.