Jetzt ist die Zeit, das Landwirtschaftssystem nachhaltig zu machen.

Interview von Bundesminister Cem Özdemir mit "Der Spiegel"

Frage: Herr Özdemir, mit Russland und der Ukraine befinden sich zwei Länder mit den größten Kornkammern der Welt im Krieg. Könnten in Deutschland Lebensmittel knapp werden?

Cem Özdemir: Nein, wir können uns mit vielen Nahrungsmitteln selbst versorgen, Gott sei Dank. Auch in der Europäischen Union ist die Lebensmittelversorgung gesichert, da muss sich niemand Sorgen machen. Aber anderswo in der Welt kann es dramatisch werden. Das gehört ja zu Putins Strategie, dass er den Hunger in der Welt anfeuert und damit Millionen Menschen als Geiseln nimmt.

Frage: Deutschland produziert mehr Getreide, als es braucht, aber Öle und Fette müssen importiert werden. Sonnenblumenöl wird fast vollständig eingeführt, es kommt zu ¬relevanten Teilen aus der Ukraine. Droht da ein Engpass?

Cem Özdemir: Wir können alle mithelfen, indem wir verantwortungsvoll einkaufen – nur das, was wir brauchen. Niemand muss etwas zu Hause hamstern, weder Klopapier noch Sonnenblumenöl. Das würde erst recht dafür sorgen, dass die Preise durch die Decke schießen und die Händler gewisse Produkte rationieren. Putins perfide Strategie ist es, dass es Engpässe gibt – er braucht Bilder von leeren Regalen, um Unsicherheit zu streuen. Ich rate dazu, seiner Propaganda nicht unnötig weiter Munition zu liefern!

Frage: Wie teuer werden Brot, Öl und andere Lebensmittel?

Cem Özdemir: Ich werde sicher nicht mit Zahlen um mich werfen. Das wäre nicht seriös. Aber man muss auf jeden Fall davon ausgehen, dass manche Lebensmittel teurer werden.

Frage: Im Dezember, weit vor dem Krieg, haben Sie für Nahrungsmittel einen Preis gefordert, der die »ökologische Wahrheit« besser abbilde – also höher sein müsse. Fordern Sie das immer noch?

Cem Özdemir: Ich habe von Ramschpreisen beim Fleisch gesprochen, wenn Lebensmittel zum Teil weit unter Herstellungskosten verkauft oder wenn die wahren ökologischen Kosten der Allgemeinheit aufgebürdet werden. Wir alle bezahlen dann indirekt diese Kosten, wenn das Wasser belastet ist, Insekten sterben und der Regenwald abgeholzt wird. Das ist am Ende viel, viel teurer, und das geht zulasten der Landwirtinnen und Landwirte. Deshalb nehme ich kein Wort zurück. Im Gegenteil, ich werde nachlegen.

Frage: Bräuchte es in der aktuellen Lage nicht vielmehr eine Brotpreisbremse?

Cem Özdemir: Lassen Sie es mich so sagen: Wir können nicht mit dem Füllhorn durchs Land gehen, sondern müssen zielgerichtet helfen. Die Leute müssen Auto fahren, natürlich, nur längst nicht jeder hat ein Auto oder ist darauf angewiesen. Aber jeder muss sich ernähren. Darauf sind alle angewiesen. Deshalb muss man schon fragen, ob eine Entlastung hier nicht zielgerichteter ist als beim Benzinpreis und allen zugutekommt, insbesondere denjenigen, die wirklich Not leiden.

Frage: Also Brotrabatt statt Tankrabatt?

Cem Özdemir: Hilfen müssen aufrichtig und effektiv sein. Ich habe nicht den Eindruck, dass das für jeden Vorschlag gilt, der gerade gemacht wird. Ich bin verwundert, dass es immer heißt, der Markt regelt das schon, also für Energie, Lebensmittel, Wohnen – nur nicht für Sprit. Auf der Habenseite stelle ich fest, dass breit erkannt worden ist, dass der Markt vieles, aber eben nicht alles von ganz allein regelt. Manches Marktversagen muss durch Politik behoben werden. Nur gilt halt auch: Die, die am lautesten rufen, sind nicht automatisch am meisten in Not.

Frage: Nutzt Russland Nahrung in diesem Krieg als Waffe?

Cem Özdemir: Das ist offensichtlich so. Ich habe neulich mit meinem ukrainischen Amtskollegen Roman Lesch¬tschenko per Video konferiert. Er saß vor Sandsäcken und erzählte, dass er ständig den Ort wechselt, weil Putin Jagd auf alle Vertreter des Staates macht, um den Staat zu schwächen. So was vergessen Sie nicht, egal wie lange Sie schon in der Politik sind. Putin zerstört Krankenhäuser, Kitas, Orte der Nahrungsmittelversorgung – und natürlich nutzt er auch seine Exportmacht.

Frage: Wie gut sind wir auf diese Art von Angriff vorbereitet?

Cem Özdemir: Es rächt sich, dass in den letzten Jahren verhindert wurde, eine nachhaltige und krisenfestere Landwirtschaft zu etablieren. Aber dass Putin Versorgungsengpässe gezielt einsetzt und Menschenleben gefährdet, auf so etwas kann man nur begrenzt vorbereitet sein. Unsere staatlichen Maßnahmen, die wir jetzt ¬ergreifen, können die Folgen des Krieges nicht ungeschehen machen, höchstens abfedern. Das gehört zur Wahrheit dazu. Die eigentliche Frage lautet für mich: Sind wir in der Lage, dem Druck standzuhalten? Oder hat Putin recht, und liberale Demokratien sind schwach?

Frage: Sind wir schwach?

Cem Özdemir: Unsere Debatten müssen moralisch Bestand haben vor dem, was anderswo auf der Welt passiert. Bei uns geht es darum, was mit den Preisen passiert, anderswo geht es darum, ob man den nächsten Morgen erlebt. Wir werden das durchhalten, wenn wir uns den Ernst der Lage bewusst machen und wenn wir vorausschauend handeln.

Frage: In einigen der Länder, die auf Weizen aus der Ukraine und Russland besonders angewiesen sind, mangelt es sowieso schon an Nahrung – im Jemen, in Äthiopien, Somalia. Drohen katastrophale Hungersnöte?

Cem Özdemir: Ich hoffe nicht, aber die Gefahr ist real. Das World Food Programme der Vereinten Nationen bezieht 50 Prozent seines Weizens aus der Ukraine. Ich habe deshalb die G-7-Agrarminister zusammengerufen, den ukrainischen Minister und die internationalen Organisationen hinzugezogen. Als westliche Nationen haben wir zuallererst die Pflicht, die Agrarmärkte offen zu halten und die weltweite Versorgung mit Getreide zu gewährleisten. Sonst spielen wir Putin in die Hände.

Frage: Russland hat einen Exportstopp für Getreide in viele Länder verkündet. Argentinien hat Ähnliches schon vor dem Krieg erwogen, um die Preise zu senken. Ungarn geht in diese Richtung.

Cem Özdemir: Wenn alle die Märkte schließen und nur an sich denken, werden viele Menschen fürchterlich leiden.

Frage: Zusätzlich zum Krieg erwartet China, der weltgrößte Weizenproduzent, eine historisch schlechte Winterweizenernte. Die Lieferketten sind noch von der Pandemie gestört. Muss Deutschland helfen, die internationalen Ausfälle zu ersetzen?

Cem Özdemir: Natürlich ist das die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, aber man muss die Grenzen des Machbaren sehen: Deutschland wird die Kornkammer der Ukraine nicht ersetzen können. Wer so etwas in den Raum stellt, spielt mit den Sorgen der Menschen und tut das auf Kosten unserer Landwirtinnen und Landwirte. Denn für Versorgungssicherheit in Deutschland sind wir vor allem darauf angewiesen, dass wir das Sterben der Höfe endlich beenden. Faire Preise, faire Einkommen, mehr Klima-, Umwelt- und Tierschutz. Das ist breiter Konsens, und den drehen wir jetzt nicht zurück. Und global: Unsere wichtigste Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass der Krieg schnell endet und die Verantwortlichen nicht wieder davonkommen wie 2014 nach der Annexion der Krim.

Frage: Wahrscheinlicher ist, dass der Krieg noch länger andauert. Was kann Deutschland dann tun?

Cem Özdemir: Wir müssen gegen Spekulation mit Nahrungsmitteln vorgehen, da werden wir nicht tatenlos zusehen, wenn sich hier Verdachtsmomente erhärten. Wir werden außerdem das World Food Programme besser ausstatten. Dafür hat meine Kollegin Annalena Baerbock meine volle Unterstützung. Zudem werden die betroffenen Ressorts – also Landwirtschaft, Auswärtiges, Entwicklung und Finanzen – die Welternährungssicherung in den Blick nehmen. Diese Zusammenarbeit wird mein Haus koordinieren. Natürlich muss man auch Lebensmittel global umlenken. Aber ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass wir damit alle Probleme gelöst hätten.

Frage: Fast 60 Prozent der deutschen Getreideproduktion enden als Tierfutter – nur etwa 20 Prozent auf dem Teller. Müsste man das nicht ändern, um den Hunger zu lindern?

Cem Özdemir: Auch wenn ich Vegetarier bin, werde ich nicht predigen, dass alle zum Vegetarismus konvertieren müssen. Aber sagen wir es so: Weniger Fleisch zu essen wäre ein Beitrag gegen Herrn Putin. Bewusst einzukaufen und weniger Lebensmittel wegzuschmeißen genauso. Und grundsätzlich ist ein System nicht nachhaltig, in dem 60 Prozent des Getreides in den Futtertrögen landen wie in Deutschland. Das ist nicht tragbar und funktioniert nicht im globalen Kontext.

Frage: Das heißt, so schnell wollen Sie nichts ändern? Die Menge an Getreide, das in Deutschland verfüttert wird, entspricht in etwa den ukrainischen Weizenexporten.

Cem Özdemir: Ich will das System der Fleischerzeugung vom Kopf auf die Füße stehen. Wenn von einem Euro für Schweinefleisch nur 21 Cent beim Erzeuger landen, Tendenz sinkend, dann ist das absurd. Noch dieses Jahr will ich ein Gesetz für ein Kennzeichen auf den Weg bringen, das die Tierhaltung transparent macht. Ich will strengere Regeln und ein Stallumbauprogramm, denn wenn wir weniger Tiere haben, müssen die Bauern einen Ausgleich bekommen. Dann bekommen wir Klimaschutz, Tierschutz und eine Zukunft für die Landwirtinnen und Landwirte.

Frage: Der Plan stand schon vor dem Krieg. Eine Zeitenwende in der Agrarpolitik gibt es also nicht?

Cem Özdemir: Doch, wir müssen nachholen, was unsere Vorgänger leider über viele Jahre verschlafen oder verweigert haben. Diese Krise muss der Anlass sein, um zu verstehen, dass uns die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen schadet, wie real die Gefahr von Hungersnöten ist und dass die Klimakrise sie extrem vergrößert. Für meinen Bereich heißt das: Jetzt ist die Zeit, das Landwirtschaftssystem nachhaltig zu machen. Schließlich war der Hunger auch schon vor dem Angriffskrieg Putins zu groß.

Frage: Gerade sieht es aber so aus: Die Ampel denkt über Entlastungen für Autofahrer nach, es werden neue Gasterminals gebaut. Zugleich werden Forderungen laut, die Ökovorgaben der EU-Agrarpolitik zu lockern. Muss die ökologische Wende warten, um die Menschen nicht zu überfordern?

Cem Özdemir: Bloß nicht! Wir können es uns schlicht nicht erlauben, die eine Krise gegen die andere auszuspielen. Dann fahren wir gegen die Wand.

Frage: Aber auch aus den Reihen Ihres Koalitionspartners, der FDP, kommen Forderungen, in ökologischen Fragen jetzt zwei Augen zuzudrücken, außerdem von Bauernvertretern oder europäischen Partnern.

Cem Özdemir: Das sage ich mal ganz direkt an die Opposition und auch den ein oder anderen in den Regierungsfraktionen: Lasst uns diesen verbrecherischen Krieg nicht dafür nutzen, um den Klimaschutz zu schädigen. Das würde uns nicht nur nichts nützen, es würde sogar wie ein Brandbeschleuniger wirken. Das ist mit mir nicht zu machen.

Frage: Aber Sie selbst haben erlaubt, übergangsweise ökologische Vorrangflächen zu nutzen, um die dort wachsenden Pflanzen als Tierfutter zu verwenden.

Cem Özdemir: Auf konkrete Probleme gibt es von mir pragmatische Lösungen. Das wurde in Dürrejahren bereits so gehandhabt. Da geht es um schnelle und konkrete Hilfen für Tierhalter, weil die Futtermittelpreise schon so hoch sind. Die können wir damit abpuffern. Wir bauen jetzt außerdem die bestehende Eiweißpflanzenstrategie aus, weil wir so die Unabhängigkeit von Futterimporten vergrößern. Und wir helfen bei der Antriebswende. Ich schließe außerdem nicht aus, dass es noch ein zweites Hilfspaket geben wird. Gute Vorschläge schaue ich mir an, egal von wem sie kommen. So mache ich Politik.

Quelle: "Der Spiegel" vom 19. März 2022

Fragen von Martin Knobbe, Jonas Schaible

Erschienen am im Format Interview

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