Wer Umweltinteressen ausspielt gegen die Interessen einer sicheren Ernährung, schadet am Ende allen

Interview von Bundesminister Cem Özdemir mit "Die Zeit"

Frage: Herr Özdemir, ist es jetzt an der Zeit, dass die Deutschen ihre Ernährung umstellen?

Cem Özdemir: Es ist schon länger Zeit – verschiedene Gründe sprechen dafür. Zum einen stellen ernährungsbedingte Krankheiten bei uns ein großes Problem dar: Verarbeitete Lebensmittel enthalten oft zu viel Zucker, Salz und Fett. Auf der anderen Seite nehmen Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte einen zu geringen Anteil im Speiseplan ein. Im Schnitt essen die Männer bei uns ein Kilo Fleisch pro Woche. Empfohlen werden aber nur 300 bis 600 Gramm Fleisch und Wurst. Die Frauen sind schlauer, sie sind ungefähr bei 600 Gramm. Und das hat nicht nur gesundheitliche Aspekte: Äßen wir weniger Fleisch, wären wir gesünder und würden einen Beitrag zum Klimaschutz leisten.

Frage: Für Sie ist das leicht zu sagen. Sie sind seit Jugendtagen Vegetarier.

Cem Özdemir: Ja, und ich bin wohl auch der erste Vegetarier als Bundesagrar- und -ernährungsminister. In der Nähe meines schwäbischen Heimatorts gab es einen Schlachthof. Der hat bei mir als Kind einen Eindruck hinterlassen. Aber den Entschluss, ganz auf Fleisch zu verzichten, fasste ich erst als Jugendlicher. Mir wurde klar, dass der Planet gar nicht reichen würde, wenn alle auf der Erde so viel Fleisch essen würden wie wir. Meine Entscheidung musste ich zu Hause hart verteidigen. Gerade für meinen Vater war Fleisch immer etwas Besonderes, ein Zeichen von Wohlstand. Er hat im Akkord in der Fabrik gearbeitet, damit der Sohn es mal besser hat, und der will dann kein Fleisch essen.

Frage: Wie reagieren denn die Tierhalter, wenn Sie bei Terminen nicht mal in ein Würstchen beißen?

Cem Özdemir: Die können sehr wohl unterscheiden zwischen den Politikern, die nur Bilder produzieren wollen mit dem Biss in die Grillwurst, und einem Vegetarier, der sagt: Tierhaltung gehört zur natürlichen Kreislaufwirtschaft. Die kann es aber nur weiter geben, wenn wir die Bedingungen ändern. Weniger Tiere, mehr Platz für sie, und das mit finanzieller Unterstützung für die Landwirtinnen und Landwirte, damit es wirtschaftlich noch tragfähig ist. Deshalb kämpfe ich für eine solidarische Abgabe zur Finanzierung, die die erste Milliarde, die ich rausgehandelt habe, ergänzt.

Frage: Allerdings schadet jedes Rind und auch der Konsum von Milch, Butter Käse dem Klima stark. Warum sind Sie nicht längst Veganer geworden?

Cem Özdemir: Ich würde mich schwertun, auf Honig zu verzichten oder auf einen guten Bergkäse. Und ich erinnere mich daran, wie meine Mutter immer selber Joghurt gemacht hat, den Geschmack meiner Kindheit will ich nicht missen. Ich bin also irgendwo zwischen vegan und vegetarisch, aber auch da gilt: Das Essen darf gern Spaß machen.

Frage: Sind Sie eigentlich Landwirtschaftsminister aus Leidenschaft – oder aus politischem Kalkül? Zuvor haben Sie an der Stelle ja wenig gemacht.

Cem Özdemir: Ich mache meinen Job mit großer Leidenschaft. Wenn ich ins Kabinett gehe, vorm Kanzleramt mein Fahrrad abstelle und hochlaufe, ist das schon noch etwas Besonderes für mich. Manchmal denke ich, wenn ich in der Runde was sage: Da redet jetzt so ein Ötzelbrötzel und entscheidet mit über die Geschicke dieser Republik. Im Übrigen ist es manchmal gut, wenn jemand kommt, der ein Fach nicht schon Jahrzehnte gemacht hat und daher niemandem etwas schuldet. Mir ist ein unverstellter Blick wichtig.

Frage: Bevor Ihnen das Amt angeboten wurde, galt Ihr Parteikollege Anton Hofreiter als Kandidat. Wäre mit ihm die grüne Wende schneller da?

Cem Özdemir: Ich wünschte, es wäre so einfach! Ich habe so einiges an Politik geerbt, so wie mein Kollege Robert Habeck ja auch. Bei ihm ist es eine Energiepolitik, die es schwer machte für die Erneuerbaren. Und wenn die Grünen jetzt nicht mitregieren würden, dann hätten wir Nord Stream 2 mit 60 Prozent Abhängigkeit von Wladimir Putin – das ist doch irre! Man zwickt sich manchmal und denkt, das war ernsthaft deutsche Politik, die erlaubte, dass Gasspeicher in russischen Besitz gehen. Und in der Agrarpolitik ist es ähnlich. Ich hätte gern eine Strategie geerbt, wie wir zum Beispiel weniger abhängig werden von mineralischem Dünger, für den wir russisches Gas brauchen. Ich hätte gern eine Strategie für eine Landwirtschaft vorgefunden, die resilienter gegen Krisen ist und in Kreisläufen denkt. Habe ich aber nicht. Also müssen wir die Dinge entwickeln. Wenn ich manchmal wehleidig zu werden drohe, habe ich Mitarbeiter, die sagen, Augen auf bei der Berufswahl.

Frage: Die Ökobauern müssten Ihre natürlichen Verbündeten sein, oder?

Cem Özdemir: Die Ökobäuerinnen und -bauern waren sicherlich nicht glücklich, weil sie unter der letzten Regierung systematisch ausgebremst wurden. Jetzt ist das anders: Die ökologische Landwirtschaft ist für uns Leitbild und mit einem sehr ehrgeizigen Flächenziel im Koalitionsvertrag verankert – 30 Prozent bis 2030. Auch in der aktuellen Lage sehen wir, dass der Ökolandbau krisenrobuster ist, weil er in geschlossenen Kreisläufen denkt und damit weniger abhängig ist von Dünge- oder Futtermittelimporten. Aber mir ist wichtig, dass wir die gesamte Landwirtschaft im Blick behalten. Viele Elemente des Bio-Anbaus, die entscheidend für die Nachhaltigkeit sind, also zum Beispiel Fruchtfolgen oder mechanische Unkrautbekämpfung, sind auch relevant für konventionelle Betriebe. Was uns weiterbringt, ist ein guter Austausch – nicht die Grabenkämpfe der Vergangenheit.

Frage: Im Moment sieht es so aus, als wäre die Lobby gegen das Ökofarming dank Putin im Aufwind. Wie gehen Sie damit um?

Cem Özdemir: Ein Beispiel: Manche fordern, die ökologischen Vorrangflächen komplett zur Bewirtschaftung freizugeben, auch mit Pestiziden. Da muss ich gegenhalten – und pragmatisch entlang der Sache entscheiden. Ich habe die Flächen jetzt vorübergehend für die Futtermittelnutzung freigegeben, weil wir da gerade Druck haben. Aber ich sage auch, die Flächen müssen geschützt bleiben, weil sie wichtig sind für die Artenvielfalt und den Klimaschutz. Ich versuche mit Geduld alles zu erklären, aber ich stelle auch eine Frage: War denn die Politik, die mir jetzt empfohlen wird, erfolgreich? Kurz vor der Jahrtausendwende gab es noch über 470.000 Betriebe. Bis heute ist die Zahl auf unter 260.000 gesunken – das ist die landwirtschaftspolitische Bilanz derer, die mir jetzt kluge Ratschläge geben. Wer Umweltinteressen ausspielt gegen die Interessen einer sicheren Ernährung, schadet am Ende allen, das sieht man jetzt gerade am Weltklimabericht. Wo ist denn der Hunger am schlimmsten? Dort, wo die Klimakrise heute massiv zuschlägt, wo Dürren, extreme Hitze oder Überschwemmungen an der Tagesordnung sind.

Frage: Sollte man die Situation jetzt nicht nutzen, um die Tierbestände deutlich zu reduzieren, mit Abbauprämien zum Beispiel?

Cem Özdemir: Ja, wer der Tierhaltung in Deutschland eine Zukunft geben will, kommt um die Bestandsfrage nicht herum. Deshalb sage ich ja auch, wir brauchen erstens eine Flächenbindung ...

Frage: ... dass also die Zahl der Tiere abhängig von der Fläche eines Betriebs begrenzt ist ...

Cem Özdemir: ... und zweitens: mehr Tierwohl, also Umbau der Ställe, kombiniert mit einer Finanzierung. Ich habe jetzt als Anschubfinanzierung eine Milliarde für meinen Haushalt erkämpft. Jetzt brauchen wir noch ein wirksames solidarisches Abgabemodell auf tierische Produkte, um unseren Landwirtinnen und Landwirten eine klare Perspektive zu geben. Ziel muss sein, mit weniger Tieren bessere Einkommen zu erwirtschaften.

Frage: Es klingt nur alles so langwierig. Wir leben in einer Zeit, in der 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitgestellt werden sollen, in der die Klimawende und die Abkehr vom russischen Gas den Turbo erfordern, und Sie wirken so, als hätten Sie jede Menge Zeit!

Cem Özdemir: Ich habe keine Zeit. Ich habe zwei Kinder. Meine Tochter ist bei Fridays for Future, die stellt mir genau dieselben Fragen wie Sie. Dann sage ich, Gott sei Dank leben wir in einer Demokratie. Da bin ich eben auch auf Mehrheiten angewiesen. Das ist keine Entschuldigung, nichts zu tun, im Gegenteil. Aber den Schalter legt Cem Özdemir nicht allein um. Ich muss überzeugen und auch argumentieren gegen den Nebel aus Verwirrung, die gegen die notwendige Transformation der Landwirtschaft gestiftet wird. Manche Vorschläge der Opposition klingen im Prinzip so, als wollte man nach einer Autopanne das Vorderrad einfach mit dem Hinterrad ersetzen. Am Ende fährt man immer noch auf der Achse.

Frage: Wer steht Ihnen denn sonst am meisten im Wege? Die Bauern, die Verbraucher, die Supermärkte, die EU-Vorgaben?

Cem Özdemir: Nicht "im Wege stehen" – sie haben Interessen, und die zu formulieren ist legitim. Die Umweltseite hat erst mal nicht den Auftrag, sich um die Einkommen in der Landwirtschaft zu kümmern. Landwirtinnen und Landwirte haben erst mal den Impuls, ihr Einkommen zu sichern, um das Ganze irgendwie zu schaffen. Der Handel will seine Margen erhalten. Daraus nach Möglichkeit ein Win-win-win zu machen, ohne dass jemand übervorteilt wird, ist der Job. Ich spreche mit allen, aber nicht allen nach dem Mund.

Frage: Bei der Frage, was man jetzt sofort machen könnte, haben wir so ein paar Vorschläge. Erstens, warum macht die Regierung nicht pflanzliche und Biolebensmittel günstiger und Fleisch teurer?

Cem Özdemir: Aus meiner Sicht wäre es absolut sinnvoll, die Mehrwertsteuer bei Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten abzuschaffen. Wir könnten nicht nur die Verbraucherinnen und Verbraucher entlasten, sondern auch ernährungspolitisch wäre das richtig und hätte eine Lenkungswirkung.

Frage: Und warum geschieht das nicht?

Cem Özdemir: Mein Haus ist dazu mit dem zuständigen Bundesfinanzministerium im Austausch.

Frage: Zweiter Vorschlag: Tiertransporte sind auch sehr umstritten, allein 2020 wurden über 40.000 lebende Rinder in Länder außerhalb der EU exportiert, unter teils tierquälerischen Bedingungen. Können Sie dieses Geschäft
sofort verbieten?

Cem Özdemir: Hier bin ich auf Brüssel angewiesen. Aber ich kann versuchen, mehr dezentrale Schlachthöfe zu schaffen statt der großen zentralen Schlachthöfe mit ewig langen Transporten. Und natürlich setze ich mich dafür ein, dass Fleisch und nicht lebende Tiere transportiert werden.

Frage: Es geht da ja eigentlich um die Zuchttiere für Drittstaaten, also nicht direkt um Fleisch. Aber was ist generell schwerer, Reform in Brüssel oder Reform in Berlin?

Cem Özdemir: Es steht doch die Frage im Vordergrund, wie wir effektiv Veränderungen im Sinne des Tierschutzes erreichen. Es ist keinem Tier geholfen, wenn nationale Verbote umgangen werden, indem Tiere einfach in einen anderen Mitgliedsstaat verbracht werden.

Frage: Mögen Sie sich also nicht festlegen?

Cem Özdemir: Die EU besteht aus 27 Staaten, damit 27 verschiedenen Traditionen, geschichtlichen und kulturellen Hintergründen. Entsprechend muss man die unterschiedlichen landwirtschaftspolitischen Interessen vereinen. In Deutschland haben wir natürlich auch zwischen Ost und West, Nord und Süd Unterschiede, aber vergleichsweise sind sie doch kleiner. Das sehe ich genau als meine Aufgabe: Chancen aufzeigen, Interessen zusammenbinden, Dinge konkret verbessern.

Quelle: "Die Zeit", 5. Mai 2022

Fragen von Laura Cwiertnia, Uwe Jean Heuser und Merlind Theile

Erschienen am im Format Interview

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