"Wir müssen die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern auf Dauer reduzieren."

Interview von Bundesminister Cem Özdemir mit der "Welt am Sonntag"

Frage: Herr Minister, seit dem Überfall auf die Ukraine blockiert Russland ukrainische Getreideexporte übers Schwarze Meer. Was tut Europa, was tut Deutschland, um ukrainische Getreideexporte über Land mit Lkw und Güterzügen zu ermöglichen?

Cem Özdemir: Es gehört zu Russlands Kriegsstrategie, die landwirtschaftliche Infrastruktur zu zerstören. Putin will nicht nur eine Demokratie ausschalten, sondern auch die Ukraine von den Weltmärkten kappen. Die Agrarexporte sind das Rückgrat der ukrainischen Wirtschaft. Wir tun deshalb einiges: Als EU haben wir die Zölle für Importe aus der Ukraine ausgesetzt - das ist eine nie da gewesene Geste der Solidarität. Zudem hat die Kommission einen Aktionsplan vorgelegt, um Solidaritätskorridore zu schaffen, über die Getreide exportiert werden kann. Das muss jetzt passieren, denn die ukrainischen Lager sind voll und die nächste Ernte steht an. Aber es bleiben logistische Probleme - etwa durch fehlende Infrastruktur oder zu wenig Personal. Auf der Schiene haben wir das Problem mangelnder Waggons und der verschiedenen Spurbreiten. Um zu helfen, suchen wir pragmatische Lösungen. Zum Beispiel haben wir in Deutschland angesichts dieser Notsituation auch ukrainische Lkw zugelassen, die nicht ganz den strengen Emissionsschutzbestimmungen genügen.

Frage: Warum schicken wir nicht selbst Lkw?

Cem Özdemir: Wir prüfen mit der Koordinierungsstelle meines Ministeriums, über die wir seit Beginn des russischen Angriffs Lebensmittelhilfe in die Ukraine bringen, ob die Lkw, die die Spenden an die Verteilungsstellen in Ostpolen bringen, auf dem Rücktransport ukrainische Erzeugnisse mitnehmen können. Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen. Wir haben auch den Transport über die Donau im Blick und schauen gerade, wie wir hier Kapazitäten nutzen können. Am besten wäre aber der Seeweg, über den in Friedenszeiten vier bis fünf Millionen Tonnen Getreide pro Monat verschifft wurden. Da bliebe im Moment noch der Hafen von Odessa, den blockieren aber die Russen.

Frage: Was halten Sie von der Idee, dass die internationale Gemeinschaft Getreideexporte militärisch absichert?

Cem Özdemir: Es finden ja bereits Gespräche über eine mögliche Öffnung von sicheren Korridoren, auch unter Vermittlung der Vereinten Nationen, statt. Die beste Lösung wäre ein russischer Abzug. Das heißt: Wir müssen alles tun, damit die Ukraine gewinnt.

Frage: Sollte man das russische Auslandsvermögen enteignen, um die Transporthilfen sowie andere humanitäre Unterstützung für die Ukraine zu finanzieren?

Cem Özdemir: Das ist juristisch nicht einfach. Die Bemühungen sollten dahin gehen, dass Russland auch für den Wiederaufbau zahlt. Es wäre niemandem begreiflich zu machen, wenn russische Firmen oder Oligarchen sich dumm und dubblich verdienen und die eigene Bevölkerung aussaugen, ihnen aber nicht wenigstens ein Teil ihres Geldes für den Wiederaufbau der Ukraine genommen würde.

Frage: Im Grunde plädieren Sie für eine ethisch vertretbare Handelspolitik. Was heißt das für den Handel mit landwirtschaftlichen Produkten mit China?

Cem Özdemir: Nichts spricht gegen den Welthandel, aber bitte schön mit Partnern auf Augenhöhe. Wir dürfen uns nie wieder so abhängig machen, dass wir erpressbar sind. Davor habe ich gerade mit Blick auf Russland immer wieder gewarnt - und das gilt auch mit Blick auf China. Deutschland und die EU tun gut daran, sich breiter aufzustellen und somit wirtschaftliche Risiken zu reduzieren. Was den Agrarsektor betrifft: Wir sollten im Blick behalten, dass China seine Landwirtschaft vorantreibt und etwa zunehmend selbst Schweinefleisch produziert.

Frage: Resultiert der starke Anstieg der Preise für Lebens- und Futtermittel in der ganzen Welt nur aus dem Krieg und dem russischen Exportstopp für Düngemittel?

Cem Özdemir: So einfach ist der Zusammenhang nicht. Wir haben es mit einer Verkoppelung verschiedener Krisen zu tun. Bei Energie haben wir den Preisanstieg schon vorher gespürt, auch wenn er jetzt noch einmal dramatisch in die Höhe gestiegen ist. Wir müssen - und das gilt auch für die Landwirtschaft und somit mein Ministerium - die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern auf Dauer reduzieren. Es kann nicht sein, dass wir im Friedensfall erneut russisches Gas oder Öl importieren. Wir müssen das fossile Kapitel mit Russland abschließen.

Frage: Sie haben zum Amtsantritt gefordert, Lebensmittel müssten teurer werden. Bereuen Sie diesen Satz inzwischen?

Cem Özdemir: Da müssen Sie bitte präzise zitieren: Ich habe mich für faire Fleischpreise ausgesprochen. Von dem, was Schweinehalter heute für ihre Tiere bekommen, können sie nicht leben - ganz zu schweigen davon, dass sie in mehr Tier- und Umweltschutz investieren. Das Problem wurde jahrelang nicht angepackt und hat zu einem dramatischen Höfesterben geführt. Allein von 2010 bis 2020 hat sich die Zahl der Schweine haltenden Betriebe fast halbiert. Diese dramatische Entwicklung macht mir große Sorgen, da geht es um Existenzen. Und wir brauchen die Tierhaltung, auch im Sinne einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft. Wenn wir die Abhängigkeit von mineralischem Dünger reduzieren wollen, brauchen wir tierischen Dünger - also Gülle und Jauche. Also müssen wir dafür sorgen, dass dieser sogenannte Wirtschaftsdünger überall in Deutschland verfügbar ist. Mein Job ist es, der Tierhaltung in Deutschland wieder eine Zukunft zu geben.

Frage: Es geht aber nicht nur um Ramschpreise, sondern um die Frage, ob sich die Verbraucher die teureren Bioprodukte leisten können.

Cem Özdemir: Es geht doch hier nicht nur um Bioprodukte - mir macht die aktuelle Preisentwicklung bei Lebensmitteln aufgrund des Ukraine-Kriegs insgesamt Sorgen. Wir sollten uns vor Augen führen, dass dies zu Putins perfider Strategie gehört, um weltweit Unsicherheit zu schüren. Wir haben als Bundesregierung sofort Entlastungspakete geschnürt, um auf die Folgen des schrecklichen Krieges zu reagieren. Und wenn es so weitergeht, dann kann ich Ihnen sagen: Nach dem Entlastungspaket ist vor dem Entlastungspaket.

Frage: Wenn Sie sagen, es gibt ein Entlastungspaket nach dem Entlastungspaket: Was bedeutet das für Ihr Ressort?

Cem Özdemir: Ich habe ja bereits einen Vorschlag gemacht.

Frage: Sie spielen auf Ihre Forderung an, die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel abzuschaffen.

Cem Özdemir: Genau. Allerdings hat das nicht bei allen Koalitionspartnern Begeisterungsstürme ausgelöst. Ich halte mich natürlich an die Koalitionsdisziplin. Dabei wäre mein Vorschlag, die Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte auf null zu setzen, ziemlich schwäbisch: Kostet verhältnismäßig wenig, bringt aber viel. Profitieren würden davon vor allem die einkommensschwachen Haushalte. Außerdem würden wir zusätzlich einen Anreiz schaffen für eine gesündere Ernährung.

Frage: Bei Ihrem Umgang mit der Krise fragen wir uns, warum Sie nicht zur Sicherung der Versorgung für die Dauer des Krieges mehr Ausnahmen bei der Durchsetzung ökologischer Vorgaben zulassen, um sich später wieder der Ökologisierung zu widmen.

Cem Özdemir: Mit Verlaub - Klima-, Umwelt- und Artenschutz ist doch kein netter Zeitvertreib, wenn es gerade passt. Die Klimakrise gefährdet schon heute die Grundlagen unserer Landwirtschaft und damit irgendwann auch unsere Versorgungssicherheit. Und mittlerweile muss man eher vom Arten-Aussterben sprechen. Wenn wir die wenigen Biodiversitätsflächen jetzt aufgeben, beschleunigen wir das. Wir müssen endlich lernen, mit mehreren Krisen gleichzeitig umzugehen.

Frage: Und wie machen Sie das?

Cem Özdemir: Ich schaue mir im konkreten Fall jeden Punkt einzeln an, drehe jedes Korn um - und wäge Kosten gegen Nutzen ab! Ich habe den Aufwuchs der ökologischen Vorrangflächen für die Futtermittelnutzung freigegeben, nicht jedoch für den Ackerbau samt Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, weil dies massiv auf Kosten der Biodiversität ginge. Und ich will die von Brüssel vorgegebene Fruchtwechselregelung aussetzen, damit Weizen auf Weizen auf der gleichen Fläche angebaut werden kann. Umwelt und Böden zahlen dafür einen Preis, aber dieser Kompromiss steht in einem vertretbaren Verhältnis zur Notwendigkeit. Das Ziel einer nachhaltigen Landwirtschaft haben wir ja nicht aus Jux und Tollerei. Es geht darum, das Artensterben zu stoppen, Erosion zu verhindern, die Bodenqualität zu verbessern, mehr Wasser zu binden. Hierbei erzielt der Ökolandbau so gute Werte, dass auch der konventionelle Landbau vieles übernommen hat. Im Übrigen: Dass wir gemäß Koalitionsvertrag 30 Prozent Ökolandbau bis 2030 anstreben, bedeutet ja, dass es 70 Prozent konventionellen Landbau geben soll. Aber der soll eben nachhaltiger werden.

Frage: Die Umweltministerkonferenz und Ihre Parteifreundin Steffi Lemke als Bundesumweltministerin sind sich einig, die Herstellung von Biokraftstoffen aus Nahrungsund Futtermitteln so bald wie möglich zu stoppen. Machen Sie mit bei einem entsprechenden Gesetzentwurf?

Cem Özdemir: Mein Ministerium unterstützt den Ausstieg aus den Biokraftstoffen, die aus wertvollen Nahrungsmitteln hergestellt werden. Es ergibt keinen Sinn, das Zeitalter der Verbrennungsmotoren dadurch zu verlängern, dass die Erträge wertvoller Ackerflächen im Tank verheizt werden. Bei der Wahl zwischen Teller, Tank oder Trog ist für mich klar: Teller first. Ich hoffe, dass wir in der Ressortabstimmung darüber Einigkeit erzielen, die verpflichtenden Beimischungsquoten von Agrarsprit schrittweise auf null abzusenken. Damit würden in Deutschland rund 800.000 Hektar für den Anbau von Lebensmitteln frei. Klar ist für uns, dass es etwa Landwirte gibt, die in den vergangenen Jahren in diesem Bereich investiert haben und eine Übergangszeit sowie neue Perspektiven benötigen. Da sind wir dran. Letztlich geht es darum, dass wir unsere wertvollen Agrarflächen für die Lebensmittelproduktion brauchen. Diese stehen unter enormem Druck - übrigens auch durch den Straßenbau.

Frage: Was ist der Stand bei Ihrem Vorhaben, die Kennzeichnungen zur Tierhaltung auf Fleischverpackungen zu ändern?

Cem Özdemir: Das Thema ist von den Vorgängerregierungen trotz eines breiten gesellschaftlichen Konsenses für bessere Haltungsbedingungen auf die lange Bank geschoben worden. Das nun mitten in der Krise anzugehen, ist nicht leicht. Momentan diskutieren wir über die Finanzierung, denn unsere Landwirte verdienen Planungssicherheit. Klar ist für mich: Ich kann den Bauern nicht sagen, dass sie die Kosten für eine artgerechtere Tierhaltung und mehr Klimaschutz vom einen auf den anderen Tag selbst über den Markt erlösen sollen. Das würde das Höfesterben beschleunigen - und das kann keiner wollen. Ich will, dass es auch in Zukunft gutes Fleisch aus Deutschland gibt. Gut für die Bauern, gut für die, die das Fleisch essen, und auch besser für die Tiere und die Umwelt. Eigentlich sind sich alle einig, dafür braucht es die Investitionen in eine zukunftsfeste Tierhaltung, und dafür kämpfe ich.

Frage: Das klingt, als hätten Sie noch keine Lösung gefunden.

Cem Özdemir: Im Gegenteil. Ich bin mit der Haltungskennzeichnung fertig und werde nächste Woche die Eckpunkte vorstellen. Auch bei der Finanzierung liegen die Vorschläge auf dem Tisch - und wesentliche Akteure habe ich auf meiner Seite. Ich bin zuversichtlich, schließlich ist allen klar, was auf dem Spiel steht. Unsere Landwirtinnen und Landwirte verdienen eine verlässliche Perspektive. Und das ganz dringend.

Frage: Brauchen nicht aktuell viele Landwirte Hilfen wegen der gestiegenen Energie- und Düngemittelpreise?

Cem Özdemir: Diese Hilfe gibt es. Die 60 Millionen Euro Krisenhilfe der EU haben wir um das maximal mögliche auf insgesamt 180 Millionen Euro aufgestockt. Das Geld kommt nun denjenigen schnell und unbürokratisch zu zugute, die am stärksten betroffen sind. Das sind vor allem die Obst- und Gemüsebauern sowie Tierhalter.

Quelle: WELTplus vom 05.06.2022

Fragen von Matthias Kamann, Christoph Kapalschinski und Jacques Schuster

Erschienen am im Format Interview

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