"Wer auf Tierschutz setzt, bekommt mit uns finanzielle Planungssicherheit"

Interview von Bundesminister Cem Özdemir mit dem "Tagesspiegel"

Frage: Herr Özdemir, Weihnachten wird traditionell Gans gegessen. Sie sind ein schwäbischer Vegetarier. Gibt es bei Ihnen vegetarische Maultaschen?

Cem Özdemir: Ihren Kollegen waren meinen Überlegungen zum Weihnachtsessen sogar einen eigenen Artikel wert, weil ich darüber nachdenke, Pasta zu machen. Offen gesagt habe ich das Menu noch nicht final entschieden. Meine Frau und meine Kinder verbringen Weihnachten in der Heimat meiner Frau in Argentinien. Ich bleibe hier und habe noch eine Menge Arbeit zu erledigen.

Frage: Das heißt, Sie sind Weihnachten ganz allein?

Cem Özdemir: Als nicht-praktizierender Muslim habe ich früher schon öfter am Weihnachtsgottesdienst der syrisch-orthodoxen Christen teilgenommen. Das ist eine bedrohte Minderheit aus der Türkei, die Aramäisch, die Sprache Christi, spricht. Die Gemeinde lädt mich jedes Jahr ein. Hinterher gibt es dort immer ein tolles Essen, auch viel Vegetarisches.

Frage: Seit wann sind Sie Vegetarier?

Cem Özdemir: Seit meinem 17. Lebensjahr. Ich kann mir für mich auch nichts anderes vorstellen, aber für meine Arbeit als Minister ist das nicht entscheidend. In meinem Job geht es ja Gott sei Dank nicht darum, persönliche Vorlieben zum Gesetz zu erklären. Mein Ministerium engagiert sich für eine pflanzenbetonte Ernährung, aber ich benenne es trotzdem nicht in "Soja-Würstchen-Ministerium" um. Auf der anderen Seite ist vollkommen unstrittig, dass es gut ist, weniger Fleisch zu essen. Wir benutzen zu viel Fläche für die Ernährung von Tieren, deren Emissionen verschärfen die Klimakrise und wir müssen Futtermittel importieren, etwa aus Brasilien. Da, wo früher wertvoller Regenwald stand, wird jetzt Soja angebaut. Hinzu kommt: Wer weniger Fleisch isst, lebt gesünder. Viele ernährungsmitbedingte Krankheiten lassen sich auch auf einen zu hohen Fleischkonsum zurückführen. Wir sollten unseren Fleischkonsum den planetaren und den gesundheitlichen Grenzen anpassen.

Frage: Was heißt das?

Cem Özdemir: Männer essen im Schnitt 1,1 Kilo Fleisch und Wurst in der Woche, empfohlen werden aber nur 300 bis 600 Gramm. Frauen sind da näher dran mit ungefähr 600 Gramm Fleischverzehr in der Woche. Es wäre nicht verkehrt, wenn die Männer sich fürs neue Jahr vornehmen würden, von den Frauen zu lernen.

Frage: Ist Fleisch immer noch zu billig?

Cem Özdemir: Ich glaube, das ist keine Frage des Preises, sondern Fleisch ist für viele heute noch ein Symbol für Wohlstand. Mein Vater ist in der Türkei auf dem Land aufgewachsen, in bitterer Armut. Er musste nach dem Tod seines Vaters die Grundschule abbrechen und in der Landwirtschaft anpacken. Fleisch war teuer, daher gab es das nur sehr selten. Dann ging er nach Deutschland, er und meine Mutter arbeiteten hart in der Fabrik, damit es dem Sohn mal besser geht. Dieses "Bessergehen" zeigte sich für sie auch darin, dass sie sich Fleisch leisten konnten – gefühlt drei Mal am Tag, sieben Mal die Woche. Als ich beschloss, Vegetarier zu werden, war das für meinen Vater ein Schock. Das war für ihn fast schlimmer als Sitzenbleiben. Eine Zeit lang probierten sie noch, mich mit allerhand Tricks davon abzubringen. Irgendwann wurde dann meine Mutter selbst Vegetarierin – und am Ende sogar mein Vater.

Frage: Wegen der Inflation kaufen viele Menschen möglichst billige Lebensmittel, auch Fleisch. Ihr Ministerium plant eine Haltungskennzeichnung, um die Bundesbürger für mehr Tierwohl zu sensibilisieren. Machen Sie gerade Politik an den Leuten vorbei?

Cem Özdemir: In Umfragen sagen fast 90 Prozent der Bevölkerung, dass sie sich umwelt- und klimabewusst ernähren wollen und ihnen das Tierwohl wichtig ist. Das reale Einkaufsverhalten entspricht dem leider nicht. Aber es gibt Stellschrauben, um das zu ändern. Dazu gehört das staatliche Haltungskennzeichen, das bei jedem Fleischprodukt verpflichtend transparent machen wird, wie das Tier gehalten wurde. Ob beim Metzger, im Supermarkt oder perspektivisch auch in der Gastronomie: Verbraucherinnen und Verbraucher haben dann erstmals flächendeckend eine Vergleichbarkeit und damit eine echte Wahl für mehr Tierwohl. Unser Ziel ist ja, weniger Tiere besser zu halten – und den Landwirtinnen und Landwirten, die da mitmachen wollen, eine gute Geschäftsperspektive zu geben.

Frage: Überladen Sie nicht den Stellenwert des Essens?

Cem Özdemir: Nein, überhaupt nicht. Wie wir leben, das hat unmittelbare Auswirkungen auf unsere Umwelt. Und das Thema Ernährung gehört da ganz vorne mit dazu. Deshalb arbeitet mein Ministerium ja gerade an einer Ernährungsstrategie. Natürlich ist Essen ein vielfältiges und sehr persönliches Thema, das mit Kultur, Tradition und Wohlbefinden zu tun hat. Wir wollen die Freude an gutem Essen fördern und es den Menschen so leicht wie möglich machen, sich nachhaltig und gesund zu ernähren. Als Kind einer türkischen Arbeiterfamilie ist es mir wichtig, dass gutes Essen nicht vom Geldbeutel abhängt. Ein wichtiger Hebel ist zum Beispiel die Gemeinschaftsverpflegung. Millionen Menschen essen jeden Tag in Kantinen, Mensen, Schulen, Kitas, im Krankenhaus oder im Pflegeheim. Es ist doch geradezu grotesk, was man da teilweise zu essen bekommt. Unsere Kinder sind das Wertvollste, was wir haben – und dann wird gerade beim Schulessen gespart. Es kann doch nicht sein, dass die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt es nicht schafft, dass jedes Kind wenigstens einmal am Tag ein gesundes, vollwertiges Essen bekommt, das gut schmeckt und vielleicht sogar vor Ort in der Schule zubereitet wird. Wenn Kinder früh lernen, was gutes Essen ist, wie das schmeckt und bestenfalls: wie das zubereitet wird, dann ernähren sie sich auch als Erwachsene besser und gesünder.

Frage: Wird es eine Bio-Quote für Kantinen geben?

Cem Özdemir: In den staatlichen Kantinen wollen wir einen Bio-Anteil von 30 Prozent festschreiben, für private Anbieter planen wir ein einfaches System, mit dem der Bio-Anteil eingängig und schnell ausgelobt werden kann. Mehr Bio, mehr regional, mehr saisonal – dafür weniger Salz, Fett und Zucker. Übrigens hapert es in der Systemgastronomie oftmals am Knowhow, wie man nachhaltiger und gesünder kocht – und trotzdem wirtschaftlich bleibt und viele Menschen zügig satt bekommt. Deshalb haben wir jetzt schon ein breites Beratungsangebot gestartet. Niemand wird zwangsweise zum Vegetarismus bekehrt, aber wir müssen Anreize für eine gesündere Ernährung schaffen.

Frage: In Kindersendungen wird viel Werbung für Zucker- oder Kalorienbomben gemacht. Wollen Sie das verbieten?

Cem Özdemir: Dieses Ziel haben sich SPD, FDP und Grüne gemeinsam gesteckt. Wir haben dafür die Rückendeckung eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses von Wissenschaft, über Krankenkassen bis hin zu Elternvertretungen. Wir arbeiten gerade an einer Vorlage, wie das rechtlich aussehen könnte. Geld damit verdienen, indem man die Gesundheit der Kinder ruiniert, das halte ich für keinen guten Weg.

Frage: Ihre Vorgängerin, Julia Klöckner, hatte auf dem Weg zu gesünderem Essen auf Selbstverpflichtungen der Lebensmittelhersteller gesetzt. Werden Sie als Minister härter vorgehen und den Bäckern oder der Ernährungsindustrie vorschreiben, wie viel Zucker, Fett und Salz sie einsparen müssen?

Cem Özdemir: Wir sind auf allen Ebenen im Gespräch mit der Ernährungswirtschaft.

Frage: Wirklich? Die Ernährungsindustrie hat fast ein Jahr lang auf einen Termin bei Ihnen gewartet.

Cem Özdemir: Es gab auch davor schon einen Austausch vor dem Hintergrund der Belastungen durch die Energiekrise. Ich glaube, wir sind jetzt gut im Gespräch. Die Lebensmittelwirtschaft weiß, dass es auch in ihrem Interesse ist, auf gute und gesündere Produkte zu setzen – also mit weniger Zucker, Fett und Salz. Welche Wege wir gehen, schauen wir uns an.

Frage: Viele Schweinehalter geben auf, weil sie nicht genug verdienen. Wollen Sie das ändern oder passt das nicht ganz gut in Ihr Konzept, weniger Nutztiere zu halten?

Cem Özdemir: Wir brauchen die landwirtschaftliche Tierhaltung und den dabei anfallenden Wirtschaftsdünger, wenn wir zu nachhaltigen Kreisläufen kommen wollen. Oder anders gesagt: Mein Gemüse braucht Tiere. Allerdings sollte niemand die Augen vor den Entwicklungen der letzten Jahre verschließen. Die deutsche Tierhaltung steckt schon länger in einer Krise, auch, weil viel für den Export produziert wurde. Wegen der Afrikanischen Schweinepest, kurz ASP, nimmt China kein deutsches Schweinefleisch mehr ab. Alle Versuche einer Regionalisierungsstrategie, mit dem Ziel, dass die Chinesen wenigstens deutsches Fleisch aus ASP-freien Gebieten kaufen, sind gescheitert. China baut inzwischen riesige eigene Produktionskapazitäten auf. Bei uns geht der Konsum von Fleisch insgesamt, aber besonders der von Schwein, deutlich zurück. Wir müssen die Tierbestände reduzieren, das stimmt. Im Moment ist es allerdings so, dass mehr Tierhalter aufgeben, als der Fleischkonsum sinkt. Als Folge kommt mehr Fleisch aus dem Ausland. Das ist problematisch, denn die Bedingungen für die Tiere sind dort oft schlechter als bei uns. Wir wollen, dass Tiere besser gehalten werden und die Landwirtinnen und Landwirte damit gutes Geld verdienen können. Darum erarbeiten wir gerade ein Förderprogramm für Investitionen und tierwohlbedingte Mehrkosten bei der Haltung.

Frage: Kritiker sagen, Ihre geplante Haltungskennzeichnung ist eine Mogelpackung, weil sie die Gastronomie ausblendet und nur die Schweinemast erfasst. Ferkelhaltung, Transport und Schlachthöfe bleiben außen vor.

Cem Özdemir: Den Kritikern sage ich, dass ich ihre Anliegen teile und dass der jetzt vorliegende Gesetzentwurf nur der erste Schritt ist, dem schon im nächsten Jahr weitere folgen werden. Dann soll die Haltungskennzeichnung auf Gastronomie und verarbeitete Produkte erweitert werden, im Anschluss kommen andere Tierarten und der Lebenszyklus an die Reihe. Ich kann die Ungeduld natürlich nachvollziehen, denn wir reden schon seit vielen Jahren über die Notwendigkeit einer Kennzeichnung, ohne dass bislang etwas passiert ist. Ich muss mir zunächst aber grundsätzlich grünes Licht, also die sogenannte Notifizierung, aus Brüssel für das neue Konzept der verpflichtenden Haltungskennzeichnung holen, bevor ich die nächsten Schritte gehen kann. Parallel arbeiten wir an den anderen Bausteinen für einen erfolgreichen Umbau der Tierhaltung – den Änderungen von Bau- und Genehmigungsrecht und einem zielgerichteten Förderprogramm. Und auf EU-Ebene kommen wir mit der Herkunftskennzeichnung weiter. Das ist wichtig, um deutsches Fleisch von Importware unterscheiden zu können.

Frage: Zur Jahreswende werden bei Gas und Strom viele Verträge umgestellt. Das trifft Bäcker, aber auch andere Lebensmittelhersteller. Kommt es dann noch einmal zu einem weiteren Preisschub bei den Nahrungsmitteln?

Cem Özdemir: Putin wird nicht darüber entscheiden, wer bei uns noch Brötchen backt und wer nicht. Ich habe mich im Kabinett stark dafür eingesetzt, dass wir für die betroffenen Bäcker- oder Metzgerbetriebe eine gute Lösung bei den Gas- und Strompreisbremsen gefunden haben. In Härtefällen, die mit übermäßigen Preissteigerungen bei Gas und Strom zu kämpfen haben, soll es einen zusätzlichen Ausgleich geben. Das Lebensmittelhandwerk ist systemrelevant und gerade für die ländlichen Räume sehr wichtig. Die Läden sichern Versorgung, Arbeitsplätze und sind Orte der Begegnung.

Frage: Was haben Sie als Minister im zurückliegenden Jahr gelernt?

Cem Özdemir: Ich habe vor allem unglaublich tolle Menschen bei meinen vielen Hofbesuchen kennengelernt. Ich wurde überall sehr freundlich und neugierig empfangen. Gleichzeitig pflegt man auf den Höfen ja gerne ein offenes und direktes Wort, das schätze ich sehr. Die schwierigste Aufgabe lag anfangs darin, echte Klagen von falschen Klagen zu unterscheiden. In manchen Fällen kann es für Betriebe das wirtschaftliche Aus bedeuten, wenn nicht gehandelt wird. In der aktuellen Energiekrise haben wir landwirtschaftlichen Betrieben, die von den immensen Kostensteigerungen kalt erwischt wurden, mit 180 Millionen Euro geholfen – schnell und vor allem unbürokratisch. Ich freue mich sehr, dass sich der Bauernverband jüngst sehr zufrieden über das vergangene Wirtschaftsjahr geäußert hat. Die Betriebe haben insgesamt sehr gut abgeschlossen. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Situation der Tierhalter, insbesondere der Schweinehalter, schwierig bleibt.

Frage: Wie sehen Sie nach einem Jahr die Zusammenarbeit in der Ampel-Koalition? Finanzminister Lindner hält offenbar nicht allzu viel von Ihren Tierwohl-Plänen. Sie haben mit ihm sehr um die Gelder für den Umbau der Tierhaltung gerungen. Wie ist Ihr Verhältnis zum Finanzminister?

Cem Özdemir: Am Ende zählt das Ergebnis – nämlich, dass ich eine Milliarde Euro Anschubfinanzierung von ihm für den Einstieg in den Umbau hin zu einer zukunftsfesten Tierhaltung bekommen habe. Das ist ja nicht das Geld von Christian Lindner oder Cem Özdemir, sondern das Geld der hart arbeitenden Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Unsere Aufgabe ist es, das Geld sinnvoll und verantwortungsvoll mit dem größten Nutzen einzusetzen. Wir haben lange darum gerungen, wie wir die Tierhalter unterstützen, das ist wahr. Am Ende haben wir einen guten Kompromiss im Sinne der Bäuerinnen und Bauern und des Tierschutzes gefunden. Wir fördern Investitionen in tiergerechte Ställe und darüber hinaus auch die laufenden Mehrkosten für eine bessere Haltung. Wer auf Tierschutz setzt, bekommt mit uns finanzielle Planungssicherheit. Das ist unser gemeinsamer Erfolg.

Quelle: Tagesspiegel vom 20. Dezember 2022

Fragen von Heike Jahberg und Albrecht Meier

Erschienen am im Format Interview

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