"Der Hunger ist dort am größten, wo die Klimakrise jetzt schon ungebremst zuschlägt"

Interview von Bundesminister Cem Özdemir mit der "Funke Mediengruppe"

Frage: Der Ukrainekrieg hat – neben der Energiekrise – eine Ernährungskrise ausgelöst. Wie dramatisch ist die Lage ?

Cem Özdemir: Die Ukraine musste auf fast ein Drittel ihrer Getreideexporte verzichten, die entscheidend sind: Viele Länder etwa in Afrika hängen direkt ab von ukrainischen Getreidelieferungen. Das hat bestehende Hungerprobleme, die bereits durch die Corona-Pandemie und die Klimakrise angefeuert wurden, noch einmal drastisch verschärft – vor allem durch gestiegene Weizenpreise. Durch vielfältige internationale Bemühungen haben sich die Weltmärkte aber nahezu wieder auf Vorkriegsniveau stabilisiert.

Frage: Wie viele Menschen sterben an Hunger, weil Putin die Ukraine überfallen hat?

Cem Özdemir: Jeder Mensch, der an Hunger stirbt, ist einer zu viel. Man muss allerdings sagen, dass wir es durch eine immense Kraftanstrengung geschafft haben, wesentlich mehr Getreide aus der Ukraine zu exportieren als gehofft – und das obwohl in einem Teil des Landes gekämpft wird und ein anderer von russischen Truppen besetzt ist.

Frage: Wie muss man sich die Arbeit der Bauern im Kriegsgebiet vorstellen?

Cem Özdemir: Bei meinem Besuch in der Ukraine habe ich mit Bauern gesprochen: Viele Betriebe haben einen Teil ihrer Belegschaft und ihres Fuhrparks an die Armee abgegeben. Viele Felder sind durch die russische Bombardierung zerstört oder mit Munitionsresten übersät – trotzdem werden sie bewirtschaftet. Vor dem Mut der ukrainischen Landwirtinnen und Landwirte kann man nur den Hut ziehen. Wir helfen tatkräftig, indem wir alternative Exportrouten über Polen und Rumänien gestärkt haben. Jetzt geht es darum, alles zu tun, damit dieser Krieg so schnell wie möglich endet und die Ukraine ihre Souveränität zurückgewinnt.

Frage: Wie gelingt das?

Cem Özdemir: Da sind eher andere Ressorts gefragt, Stichwort Großkatzen und andere Wildtiere aus Deutschland. Als Landwirtschaftsminister sage ich: Wenn wir die Ukraine dabei unterstützen, ihre Souveränität zurückzugewinnen, leisten wir auch einen Beitrag zur Bekämpfung des globalen Hungers. Das sage ich gerade denjenigen, die kriegsmüde sind. Putin setzt darauf, dass wir nicht durchhalten. Wir werden weiter an der Seite der Menschen in der Ukraine stehen, die für ihre Freiheit kämpfen.

Frage: Stichwort Großkatzen: Sollte die Bundesregierung auch den Kampfpanzer Leopard 2 liefern?

Cem Özdemir: Wir sollten mit unseren internationalen Partnern alles dafür tun, damit der Krieg schnellstmöglich endet – und zwar nicht mit einem russischen Siegfrieden, sondern mit einem Sieg der Ukraine. Wir haben gesehen, dass der Flakpanzer Gepard massiv geholfen hat, ukrainisches Leben zu schützen. Nun unterstützen wir folgerichtig mit der Lieferung des Schützenpanzers Marder. Wie es weitergeht, habe ich nicht zu entscheiden. Übrigens helfen wir als Bundesregierung nicht nur militärisch. Ich bin stolz darauf, dass wir mit den Hilfstransporten, die von meinem Haus koordiniert werden, eine wichtige Rolle einnehmen. Unser Signal muss sein: Der Westen lässt seine Partner nicht mehr hängen, egal wie lange es dauert. Die russischen Soldaten bekommen das ja mit und fragen sich zu Recht, ob das, was man ihnen befiehlt, überhaupt Sinn ergibt.

Frage: Als Landwirtschaftsminister werden Sie eher daran gemessen, wie Sie die Ernährungskrise bekämpfen. Warum zögern Sie, stillgelegte Flächen für den Getreideanbau freizugeben?

Cem Özdemir: In Deutschland und Europa ist die Lebensmittelversorgung gesichert, da muss sich niemand sorgen. Der Hunger ist dort am größten, wo die Klimakrise jetzt schon ungebremst zuschlägt – also etwa in Teilen Asiens, Afrikas und des Nahen Ostens. Was den Getreideanbau bei uns betrifft: Ich habe das pragmatisch entschieden. Bereits aktive Artenschutzflächen bleiben geschützt – das war mir wichtig! Aber weitere geplante Flächen zum Schutz von Tieren und Böden wird es nun ab 2024 und nicht schon dieses Jahr geben. Mir ist das nicht leichtgefallen, denn die Regeln gibt es aus gutem Grund. Biodiversität und gesunde Böden sind die Grundlage für stabile Ökosysteme und unsere Landwirtschaft. Wer nun meint, alte Debatten neu führen zu müssen: Ernährungssicherheit ist nur möglich, wenn wir Klima- und Artenschutz ernst nehmen!

Frage: Warum sollen die Ausnahmen nur für ein Jahr gelten? Glauben Sie, die Krise ist danach vorbei?

Cem Özdemir: Der Kompromiss war eine einmalige Reaktion auf den russischen Angriff, um die Märkte zu stabilisieren. Genauso wie die Aussetzung der sogenannten Fruchtfolgevorgabe, damit auf dem gleichen Acker Weizen auf Weizen angebaut werden kann. Künftig gilt auch wieder, dass vier Prozent der Fläche für den Arten- und Bodenschutz reserviert sind. Als Honorierung für diese Leistung erhalten Landwirtinnen und Landwirte jährlich ihre Agrarförderung.

Frage: Wie lange dürfen Bauern noch Getreide für Biosprit ernten?

Cem Özdemir: Wenn es nach mir geht, wofür wir Getreide nutzen – also Teller, Tank oder Trog –, dann sage ich ganz klar: Teller first! Getreide sollte in erster Linie für die menschliche Ernährung genutzt werden, bisher ist das nicht der Fall. Die Herstellung von Biosprit aus Nahrungspflanzen hat keine Zukunft – vor allem nicht, wenn wir das Thema Ernährungssicherheit und bezahlbare Lebensmittel ernst nehmen.

Frage: Wann also ist damit Schluss?

Cem Özdemir: Das entscheide ich nicht alleine. Wir brauchen in der Bundesregierung eine vernünftige Einigung, dass wir schrittweise runtergehen vom Biosprit aus Nahrungspflanzen, um diese für die menschliche Ernährung nutzen können. Ich würde es befürworten, wenn wir ab 2030 im Verkehrssektor auf Kraftstoff aus Anbaubiomasse verzichten würden.

Frage: Sie wollen den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln reduzieren. Ist das der richtige Zeitpunkt?

Cem Özdemir: Dänemark hat unter Beweis gestellt, dass nahezu gleichbleibende Erträge bei 40 Prozent weniger Pestizidbelastung möglich sind. Die Mär, wir bräuchten immer mehr Pflanzenschutzmittel und Dünger, hat uns in ein dramatisches Artensterben geführt. Wir brauchen integrierten Pflanzenschutz, bei dem der Einsatz von Pestiziden nur das letzte Mittel ist, wenn alle anderen Maßnahmen – angefangen bei der Fruchtfolge bis hin zu alternativen Pflanzenschutzmethoden – nicht greifen

Frage: Davon müssen Sie die Bauern erst noch überzeugen.

Cem Özdemir: Das erlebe ich in meinen Gesprächen auf den Höfen anders, das Umdenken hat ja schon längst eingesetzt. Pflanzenschutzmittel und auch Dünger können inzwischen viel gezielter eingesetzt werden, die Forschung dazu treiben wir massiv voran. Ich bekenne mich ganz klar zum Ziel der EU, 50 Prozent der Pflanzenschutzmittel bis 2030 einzusparen – über den Weg dahin müssen wir sprechen.

Frage: Welchen Weg wollen Sie nehmen?

Cem Özdemir: Die Verhandlungen mit Brüssel laufen nun. Mit Blick auf das vorgeschlagene Totalverbot von Pestiziden in Schutzgebieten sage ich als deutscher Landwirtschaftsminister: Wir haben Sonderkulturen wie den Obstbau und den Weinbau, die für unsere Kulturlandschaften und deren Artenvielfalt prägend sind. Für die müssen wir tragfähige Lösungen finden, sonst gibt es keinen Wein mehr aus der Pfalz und kein Obst vom Bodensee. Auch müssen wir darüber sprechen, welche Schutzgebiete unter die strengen Schutzvorgaben fallen – Landschaftsschutzgebiete gehören für mich nicht dazu. Aber das Ziel einer Reduzierung um 50 Prozent ist nicht verhandelbar.

Frage: Wann werden Lebensmittel wieder billiger?

Cem Özdemir: Die Prognosen gehen von einer sinkenden Inflationsrate aus, allerdings immer noch auf einem zu hohen Niveau. Wir müssen uns also weiter auf ein hohes Preisniveau bei den Lebensmitteln einstellen. Die Bundesregierung hat sich für eine indirekte Entlastung entschieden: Die Preisbremsen für Gas und Strom helfen auch Metzgereien oder Bäckereien dabei, die Preise stabil zu halten.

Frage: Kommen weitere Entlastungen?

Cem Özdemir: Ich persönlich habe große Sympathien dafür, die Mehrwertsteuer für Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte auf null zu setzen. Das würde auch das Signal setzen, dass gesunde Ernährung günstiger ist. Gute Ernährung darf nicht am Geldbeutel scheitern

Quelle: Funke Mediengruppe, 07. Januar 2023

Fragen von Jochen Gaugele und Beate Kranz

Erschienen am im Format Interview

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