Wir wollen unsere Landwirtschaft zukunftsfest weiterentwickeln

Auszüge aus dem Interview von Bundesminister Cem Özdemir mit dem „Reutlinger General-Anzeiger“

Frage: Herr Özdemir, Sie kämpfen für eine gesunde Ernährung. Was haben sie heute gefrühstückt?

Cem Özdemir: Ich habe heute in Stuttgart gefrühstückt. Da gab es ein Vollkornbrot, Honig aus der Region, Butter, einen Kaffee – leider nicht aus der Region – und eine Apfelsaftschorle von der Streuobstwiese.

Frage: Von einem Landwirtschaftsminister ist man es gewöhnt, dass die Zukunft und das Auskommen der Landwirte im Mittelpunkt stehen. Warum liegt Ihnen die Ernährung so am Herzen?

Cem Özdemir: Ich bin Bundesminister für Ernährung und für Landwirtschaft. Und beide Themen liegen mir am Herzen, sie betreffen immerhin auch über 80 Millionen Menschen in Deutschland. Die allermeisten von uns sind ja auf Essen angewiesen. Mir ist es wichtig, dass wir möglichst Produkte aus der heimischen Landwirtschaft kaufen, gerne aus der Region, gerne Bio. Dann geht es darum, dass wir uns gut, gesund und mit Freude ernähren, der CO2-Fußabdruck kleiner wird und wir einen Beitrag zur Artenvielfalt leisten. Zudem hat Ernährung auch eine soziale Komponente. Nicht alle, die sich ungesund ernähren, tun das absichtlich. Manchmal fehlt Information, manchmal scheitert es am Einkommen und manchmal scheitert es auch an den eigenen Möglichkeiten. Deshalb will ich auch die Außer-Haus-Verpflegung in Kantinen, in Kitas, in Schulen, Betrieben und Heimen nutzen, um gesunde und regionale Produkte zu fördern. Das Essen soll stärker pflanzenbetont sein und darf dazu auch noch gut schmecken.

Frage: Sie werben für Bioprodukte und vegetarische Ernährung. Muss man eigentlich ein schlechtes Gewissen haben, wenn man ein Leberkäswecken oder ein Schnitzel isst?

Cem Özdemir: Was jemand isst, dass entscheidet derjenige bitte schön immer noch selbst. Unser Ernährungsreport hat gezeigt, dass die Bürger immer weniger Fleisch essen und die Zahl der Flexitarier, also derer, die weniger Fleisch essen, aber darauf achten, gutes Fleisch zu essen, steigt. Sie achten etwa darauf, dass das Tier artgerecht gehalten wurde. Aber auch unter dem Aspekt Gesundheit sind wir gut beraten, wenn wir unsere Essgewohnheiten den Empfehlungen der Wissenschaft anpassen. Frauen sind da schon nah dran, die Männer haben noch etwas Anpassungsmöglichkeiten. Also eigentlich alles wie immer.

Frage: Wird es irgendwann gar keine Menschen mehr geben, die Fleisch essen?

Cem Özdemir: Wie sich der Fleischkonsum weiter entwickeln wird, kann man höchstens erahnen. Aber die enormen Wachstumsprognosen für Fleischersatz-Produkte zeigen ja, wo unsere Wirtschaft die Zukunft sieht. Ich sage als Vegetarier aber aus voller Überzeugung: Mein Gemüse braucht Tiere. Ganz ohne Tierhaltung ist eine Kreislaufwirtschaft nicht möglich. Denn dann gäbe es keinen Wirtschaftsdünger wie Gülle, Jauche, Mist, den die Pflanzen für ihr Wachstum benötigen und der zur Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit beiträgt. Wenn der Fleischkonsum zurückgeht und auch der Tierschutz einen immer größeren Stellenwert bekommt, dann brauchen wir Rahmenbedingungen, die es unseren Landwirte dennoch ermöglichen, von ihrer Arbeit gut zu leben. Sie brauchen eine wirtschaftliche Perspektive und Planungssicherheit. Deshalb führen wir gerade eine neue Tierhaltungskennzeichnung ein. Das Ziel ist, weniger Tiere besser zu halten. Bei dem dafür nötigen Umbau der Ställe unterstützen wir die Landwirte. Allein für die Schweinehaltung stellen wir eine Milliarde Euro zur Verfügung. Wir investieren mehr in die zukunftsfeste Weiterentwicklung der Tierhaltung als jede Bundesregierung zuvor. Und wer in der Landwirtschaft neue Betätigungsfelder sucht, kann von uns gefördert werden, wenn er etwa Eiweißpflanzen wie Kirchererbsen oder Hülsenfrüchte anbaut, die mit Trockenstress besser auskommen. Das heißt: Ich mache als Agrarminister Angebote für die gesamte Breite der Gesellschaft.

Frage: Dennoch laden Sie das Thema Essen moralisch auf. Wer Fleisch ist, schadet der Umwelt, lautet die Botschaft der Grünen. Ist das nicht ein Kulturkampf?

Cem Özdemir: Für Kulturkampf sind andere zuständig. Unsere Botschaft lautet: Wir wollen unsere Landwirtschaft zukunftsfest weiterentwickeln und dabei die CO2- Emmission reduzieren. Wir sind da auf einem guten Weg. Der Landwirtschaftssektor jedenfalls hat seine Klimaziele erreicht.

Frage: Dennoch ist Fleischkonsum kein Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel. Das geht ja nur, wenn man sich pflanzlich ernährt.

Cem Özdemir: Das Schöne ist, dass dieses Umdenken bereits stattfindet. Die Zahl der Vegetarier und Flexitarier in diesem Land wird ja nicht par ordre du mufti oder von Cem Özdemir festgesetzt. Das entscheiden die Leute schon allein. Die Bevölkerung ist schon weiter als der eine oder andere Funktionär oder Oppositionspolitiker. Wir machen eine Politik, die diesen Prozess begleitet, indem wir sagen: weniger Tiere als Beitrag für den Klimaschutz und gleichzeitig mehr Platz für Tiere als Beitrag für den Tierschutz. Die Ernährungsdebatte wird sehr emotional geführt und viele betreiben sie als Kulturkampf. Auf Fakten wird da schnell verzichtet. Uli Hoeneß etwa hat mir neulich vorgeworfen, dass ich ihm den Zucker aus dem Kaffee nehmen würde. Warum sollte ich das tun? Meinetwegen kann er seinen Kaffee auch mit Schinkenwürfeln trinken, da mische ich mich nicht ein. Meine Rolle sehe ich eher darin, die Menschen in der Mitte der Gesellschaft zusammenzuhalten, mit allen zu sprechen. Egal ob Vegetarier, Veganer, Fleischesser oder Flexitarier. Ein Kulturkampf führt nur dazu, dass die Radikalen stärker werden.

Frage: Tofu statt Currywurst in der Schulkantine, ist das nicht ein Subventionsprogramm für Bäckereien und Metzgereien in der Nähe von Schulen? Da rennen dann noch mehr Schüler hin und Sie erzielen das genaue Gegenteil.

Cem Özdemir: Das hängt davon ab, wie gut das Essen in der Schule ist. Gesundes und leckeres Essen gehören zusammen. Mir ist aber auch wichtig, dass sich jeder sein Essen selbst aussuchen darf und jeder die Portionsgröße selbst bestimmt. Das hätte dann nämlich auch den schönen Effekt, dass weniger Lebensmittel verschwendet werden. Natürlich ist das Biofleisch vom Metzger um die Ecke besser und schmackhafter, aber eben auch viel teurer als ein Produkt aus Massentierhaltung. Doch das heißt auch: Wer wenig Geld hat, kann sich nicht gesund ernähren.

Frage: Wird gutes Fleisch aus artgerechter Haltung nicht zum Luxusgut, das sich nur Wohlhabende leisten können?

Cem Özdemir: Ich kenne das Problem aus eigener Anschauung. Denn ich stamme aus einem Arbeiterhaushalt in Bad Urach. Beide Eltern waren berufstätig. Wenn ich nach der Schule mit dem Rad nach Hause gefahren bin, war oft niemand zu Hause. Ich hatte nur eine Mark sechzig pro Tag für mein Mittagessen. Das Geld war abgezählt. Das reichte genau für eine Rote Wurst oder eine Portion Pommes mit einer Dose Cola. Ich habe mich als Kind jahrelang so ernährt und weiß, was Junk-Food ist. Aber das ist kein Zustand, mit dem man sich abfinden darf. Deshalb müssen wir die Außer-Haus-Verpflegung verbessern und dafür sorgen, dass sich jeder dort gesundes Essen leisten kann.

Frage: Wenn man so auf Ihre Biografie blickt, sieht man jemanden, der Grenzen und Gewohntes überschreitet. Erster Bundestagsabgeordneter mit türkischer Abstammung, erster Grüner, der das Direktmandat im Wahlkreis Stuttgart holt und nun erster Vegetarier als Agrarminister. Müssen Sie oder wollen Sie immer Erster sein?

Cem Özdemir: Mir geht es da nicht ums Gewinnen. Schauen Sie: Meine Eltern haben beide in der Fabrik gearbeitet. Wir hatten kein eigenes Bad. Mein Vater hat immer Wert darauf gelegt, dass er gepflegt und pünktlich bei der Arbeit war. Seine Arbeitskleidung war trotz dieser Umstände stets sauber. Ich weiß gar nicht, wie er das geschafft hat. Für ihn hatte das mit Würde zu tun. Zu mir hat er immer gesagt: "Du bist ein Arbeiter der Politik. Du musst pünktlich und respektvoll sein. Und vergiss nie, dass du einen fremdländischen Namen hast. Da schauen die Menschen viel genauer hin. Deshalb musst du noch etwas besser sein als die anderen." Das habe ich verinnerlicht und sehe es als Verpflichtung an, um voranzugehen und für andere die Tür zu etwas Neuem zu öffnen.

Frage: Sie werben für gesundes Essen und sind selbst Vegetarier. Dennoch: Gibt es bei Ihnen nicht auch Dinge, bei denen Sie schwach werden?

Cem Özdemir: Es gibt viele leckere Dinge, bei denen ich schwach werde – etwa jetzt bald an Weihnachten einen schönen Stollen.

Quelle: Reutlinger General-Anzeiger vom 04.November 2023

Fragen von Davor Cvrlje

Erschienen am im Format Interview

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