Die gesunde Wahl zur einfachen Wahl machen
Auszüge aus dem Interview von Bundesminister Cem Özdemir mit web.de
Frage: Herr Özdemir, was haben Sie heute gegessen?
Cem Özdemir: Noch nicht viel. Gestern war die Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses und der Haushalt meines Ministeriums wurde erst gegen 3 Uhr nachts behandelt. Ich habe aber etwas Obst gegessen, so wie fast jeden Morgen.
Frage: Sie wollen die Deutschen zu einer gesünderen Ernährung bewegen. Warum ist Ihnen das Thema so wichtig?
Cem Özdemir: Wir haben bis zu zwei Millionen Kinder in Deutschland mit Übergewicht oder sogar Adipositas. Mir ist das Thema als Mensch, als Vater und als studierter Sozialpädagoge wichtig. Die gesamtgesellschaftlichen Kosten von starkem Übergewicht liegen in Deutschland pro Jahr bei 63 Milliarden Euro. Auch aus volkswirtschaftlicher Sicht ist es also sinnvoll, die Menschen in die Lage zu versetzen, sich möglichst einfach gesund zu ernähren.
Frage: Sie erklären Ihre Begeisterung für das Thema auch mit Ihrer Biografie.
Cem Özdemir: Meine Eltern kamen als sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland und mussten viel arbeiten. Mein Vater hatte sogar eine Zeit lang zwei Jobs, damit wir über die Runden kommen. Nach der Schule war ich oft allein. Für mein Mittagessen bekam ich ungefähr 1,60 Mark, das reichte für eine Currywurst oder eine Pommes und eine Cola. Davon habe ich mich jahrelang ernährt. Es spricht auch gar nichts dagegen, sowas ab und an zu essen – aber es eignet sich nicht als Grundnahrung in der Wachstumsphase. Mein Beispiel zeigt: Gesunde Ernährung ist auch eine soziale Frage.
Frage: Sie planen eine umfassende Ernährungsstrategie. Ziel ist eine "gesündere, ressourcenschonende und pflanzenbetonte Ernährung". Schaffen es die Deutschen nicht allein, sich gut zu ernähren?
Cem Özdemir: Das klappt oft schon gut, aber eben nicht überall. Jeder will, dass seine Kinder gesund aufwachsen. Aber viele Eltern sind auch überfordert, weil ihnen etwa das Wissen fehlt oder sie arbeitsbedingt wenig Zeit haben. Unsere Ernährungsstrategie nimmt deshalb vor allem Kinder in den Blick. Die gesunde Wahl zur einfachen Wahl machen, darum geht es und das ist auch eine Frage der Chancengerechtigkeit. Ein mächtiger Hebel ist die Außer-Haus-Verpflegung, etwa in Kitas und Schulen. Die ist übrigens auch wichtig, um unsere heimische Landwirtschaft zu stärken. Wenn wir hier mehr auf regionale Lebensmittel setzen, schafft das eine immense Wertschöpfung für unsere Landwirtinnen und Landwirte.
Frage: Sollen die Deutschen aus Ihrer Sicht auch weniger Fleisch essen?
Cem Özdemir: Es braucht keinen Cem Özdemir, der den Leuten sagt: Esst weniger Fleisch. Das entscheiden und machen die Menschen schon ganz alleine. Der Fleischverzehr geht seit Jahren zurück, in den letzten 15 Jahren verbuchen wir einen Rückgang von 62 auf 52 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Dieser Trend wird weitergehen. Die Menschen sind längst weiter als mancher Lobbyist oder Politiker. Unser Ernährungsreport bestätigt, dass sich die Ernährung rasant ändert. Die am stärksten wachsende Gruppe sind nicht Vegetarier oder Veganer, sondern die Flexitarier – das sind Leute, die weniger Fleisch essen, dafür sehr bewusst. Meine Aufgabe ist es, auf diese Entwicklung zu reagieren und die Rahmenbedingungen zu verbessern. Das Nichtstun der Vergangenheit hat krasse Strukturbrüche verursacht.
Frage: Was meinen sie damit?
Cem Özdemir: Zwischen 2010 und 2020 hat fast die Hälfte der Schweine haltenden Betriebe aufgegeben. Für eine nachhaltige Landwirtschaft brauchen wir Tierhaltung und wenn die in Deutschland eine Zukunft haben soll, dann müssen wir weniger Tiere besser halten. Mehr Tierschutz ist auch klarer Wunsch der Bürgerinnen und Bürger.
Frage: Sie haben ein staatliches Tierhaltungskennzeichen auf den Weg gebracht. Konsumentinnen und Konsumenten sollen damit leicht erkennen, wie ein Tier gehalten wurde. Kritiker bemängeln aber, dass die Kennzeichnung nur für Schweinefleisch gilt und nicht das gesamte Leben des Tieres umfasst.
Cem Özdemir: Man beginnt die Treppe immer mit der ersten Stufe. Schweinefleisch wird am meisten nachgefragt, deshalb haben wir damit angefangen. Wir arbeiten aber bereits an den nächsten Schritten. Diejenigen, die mich jetzt kritisieren, hatten zuvor 16 Jahre Zeit, es anders zu machen. Sie sind aber krachend gescheitert. Dabei gab es vor ein paar Jahren noch sprudelnde Steuereinnahmen. Heute kämpfen wir um jeden Cent. Wir haben einen schrecklichen Krieg in der Ukraine, wir haben immer noch eine viel zu hohe Inflation und der Finanzminister macht Sparhaushalte. In dieser Situation gebe ich trotzdem mehr für eine bessere, zukunftsfeste Tierhaltung aus als meine Vorgänger – nämlich zunächst eine Milliarde Euro für die den Umbau hin zu einer tiergerechteren Schweinehaltung.
Frage: Aus Sicht von Tierschützern ist das staatliche Label aber nur ein kleiner Wurf.
Cem Özdemir: Ich habe erreicht, dass wir parallel das Baugesetzbuch und das Emissionsrecht ändern, um den Umbau von Ställen zu vereinfachen. Das habe ich zusammen mit 16 Umwelt- und Agrarministern der Länder durchgebracht. Ich habe geliefert – innerhalb kürzester Zeit. Natürlich würde ich mir auch eine bessere Haushaltslage wünschen, damit wir jetzt schon wissen, was nach der Milliarde für die Schweinehalter kommt. Der Finanzbedarf ist deutlich höher, wenn wir auch andere Tierarten einbeziehen. Ich bleibe dran, ich bin da sehr hartnäckig. Aber die aktuelle Diskussion um den Haushalt und seine künftige Finanzierung haben Sie ja auch mitbekommen.
Frage: Im Bundestagswahlkampf 2013 haben die Grünen einen Veggie-Day pro Woche vorgeschlagen. Das war für Ihre Partei medial ein Desaster. Haben Sie daraus gelernt?
Cem Özdemir: Am Ende waren damals alle unglücklich. Für die einen war es ein Eingriff in ihr Leben. Die anderen haben gesagt: warum denn nur ein einziger Veggie-Day pro Woche? Wir haben daraus gelernt, dass sich die Politik um Strukturen kümmern muss. Um die Umsetzung in ihrem Alltag kümmern sich die Leute schon selbst.
Frage: Also wollen Sie den Menschen nichts vorschreiben?
Cem Özdemir: Ich mache Angebote und setze darauf, dass sich gute Ideen durchsetzen. Das gefällt nicht jedem. Uli Hoeneß hat neulich im Fernsehen behauptet, ich würde ihm den Zucker aus dem Kaffee nehmen. Mich interessiert der Kaffee von Uli Hoeneß gar nicht. Er soll ihn von mir aus mit Speckwürfeln trinken. Das darf er alles, wir sind ein freies Land.
Frage: Wenn Sie in die Glaskugel schauen: Wie könnten sich die Essgewohnheiten der Deutschen in 20 Jahren verändert haben?
Cem Özdemir: Gesundheit, Nachhaltigkeit – das wird wichtiger. Die Rolle von regionalen, saisonalen und auch ökologischen Produkten wird zunehmen. Und ich glaube, dass der Fleischkonsum weiter abnehmen wird. Irgendwann werden die Flexitarier in der Mehrheit sein. Gegessen wird immer, was schmeckt – aber auch Geschmäcker ändern sich. Und das ist doch mal eine gute Nachricht, finde ich.
Quelle: web.de vom 22.November 2023