Nur wer ständig erinnert, verhindert das Vergessen.

Rede Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft bei der Übergabe des Gutachtens "Hundert Jahre BMEL" durch die unabhängige Historikerkommission

Es gilt das gesprochene Wort!

Herzlich willkommen Ihnen allen im Bundeslandwirtschaftsministerium.

Besonders freue ich mich, dass Du, lieber Christian [Schmidt], mit dabei bist. Denn Du hast einen wesentlichen Anteil daran, dass wir heute gemeinsam hier sind. Wenn auch – leider – nur in kleiner Runde. Denn das Projekt, das heute hier seinen Schlusspunkt nimmt: Es ist ein Projekt, das Du angestoßen hast.

Die Historikerkommission ist eine unabhängige, wissenschaftliche Kommission. Sie legt heute ihren Abschlussbericht vor. Sie hatte den Auftrag zu erforschen, welche Kontinuitäten es hier im Haus gab. Dazu zählen auch Kontinuitäten, die das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte überdauert haben. Bei den handelnden Personen ebenso wie in der Sache.

Ganz bewusst wurde der Auftrag der Kommission zeitlich weit zurückgreifend gefasst. Auch im Vergleich zu den Aufarbeitungsprojekten anderer Ministerien. Das finde ich auch sehr wichtig, da die Geschichte unseres Ministeriums nicht erst 1949 begann. Sondern bis zur Gründung des Reichsernährungsministeriums 1919 aus der Vorgängerbehörde, dem Kriegsernährungsamt zurückreicht. Ausgangspunkt war aber schon die Frage nach der NS- Belastung nach 1945.

  • Wie lange hat die Zeit des Nationalsozialismus nachgewirkt hier im Haus?
  • Wie tief war die Ideologie eingedrungen in Strukturen?
  • Hat sie das Handeln beeinflusst – auch später im Bundesministerium nach 1949?
  • Und natürlich auch die Frage: Welche Kräfte und Anstrengungen gab es:
  • die ignoriert haben – oder
  • die sogar aktiv Dinge unter den Teppich gekehrt haben?

Es ist wichtig, dass wir diese Fragen stellen, dass wir sie zum Gegenstand unabhängiger Forschung machen. Denn es sind Fragen, bei denen wir eines nicht zulassen können: Dass sie sich durch Zeitablauf erledigen und aus dem Bewusstsein verschwinden.

Ich danke deshalb Ihnen, Herr Professor Möller, und Ihren Kolleginnen und Kollegen für Ihre Arbeit in den vergangenen drei Jahren. Ihre Ergebnisse, die sie uns heute vorstellen, geben uns Einblick in ganz unterschiedliche Abschnitte unserer Geschichte. Sie beschreiben, welche politischen und landwirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den verschiedenen Epochen vorherrschten. In West und Ost. Auch das war uns wichtig. Und Sie haben auch unbequeme Wahrheiten gefunden.

  • Die Wahrheit, dass das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft im Nationalsozialismus hoch ideologisiert war.
  • Und eng eingebunden in verbrecherische Siedlungspolitik im Osten und die Ausbeutung und Aushungerung besetzter Gebiete
  • Die Wahrheit, dass dann später der Anteil ehemaliger Parteimitglieder und ehemaliger Mitglieder der SS im Vergleich zu anderen Ministerien der Bundesregierung sehr hoch gewesen ist.
  • Dass noch Anfang der 70er Jahre die Zentralabteilung in der Hand Hermann Martinstetters lag, der hochrangiges Mitglied der Allgemeinen SS gewesen war.
  • Dass das Bundesinnenministerium die Beförderungen dieses Beamten wegen dessen NS- Vergangenheit verhindern wollte – ohne Erfolg.
  • Dass noch 1984 ein Staatssekretär - Walther Florian - berufen worden ist, der ehemaliges Mitglied der allgemeinen SS war. Mit einem gefälschten Lebenslauf.

Für mich, das muss ich sagen, war auch erschütternd: Dass das Bundesministerium in der Nachkriegszeit nahezu nichts zur Erforschung der eigenen Geschichte geleistet hat. Im Gegenteil: Die Mahnung jüdischer Opferverbände bei der Ernennung von Florian zum Staatssekretär 1984 wurden ignoriert. Ebenso wie der Umstand, dass er – auch dienstlich - nicht in die USA reisen konnte. Weil er auf der Watchlist der USA stand und amerikanische Behörden ihm die Einreise in die Vereinigten Staaten verwehrten.
Sehr geehrter Herr Möller, Sie haben nicht nur Grundlagenarbeit geleistet. Sie haben auch Transparenz über unsere Vergangenheit geschaffen, die wir dringend benötigt haben.

Was nehmen wir daraus mit?

Jetzt ist natürlich die Frage: Was nehmen wir mit aus diesen Untersuchungen? Ich habe darauf zwei Antworten. Eine persönliche. Und eine politische.

Die persönliche lautet: Demut. Wir sollten Demut haben vor der Zeit, in der wir leben. Demut, dass wir eben nicht vor die Entscheidung gestellt sind. Und eben nicht die Fragen beantworten müssen, die keiner von uns beantworten kann:

  • Wie hätte ich mich verhalten?
  • In einem System des Unrechts?
  • Im vorauseilenden Gehorsam Karriere gemacht?
  • Hätte ich rechtzeitig gemerkt, was da gerade passiert?

Eine wichtige Frage, die auch in meinem Fachgebiet, der Theologie, nach wie vor eine der intensiv diskutierten Fragen ist: Wäre es möglich gewesen, rechtzeitig zu verstehen? Was hätte man, verhindern können, was wäre der richtige Weg gewesen, Stichwort Reichskonkordat. Hätte man „dem Rad in die Speichen fallen“ können – wie es der Theologe Dietrich Bonhoeffer schon 1933 formuliert hat? Als einer der tatsächlich weitsichtigsten Theologen in der Bewertung dessen, was in Deutschland damals schon systematisch vorbereitet worden ist. Aus dieser Demut, aus diesen Fragen, ergibt sich deshalb auch klar: der Auftrag, wachsam zu bleiben.

2017 ist dazu ein ebenso eindrucksvolles wie knappes Buch erschienen. Geschrieben von dem amerikanischen Historiker Timothy Snyder, mit dem Titel "Über Tyrannei", in dem er uns "20 Lektionen für den Widerstand" erteilt. Ein Buch, das man als eine Gebrauchsanleitung lesen kann. Um sich selbst, das eigene Verhalten, zu hinterfragen. Er fordert uns auf, aus den Erfahrungen des Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus zu lernen, sie zu nutzen für heute. Denn, so Snyder: "Geschichte wiederholt sich nicht. Aber wir können aus ihr lernen." Wir müssen sogar aus ihr lernen. Gerade wenn man den Eindruck hat, dass sich die Dinge im eigenen Land nicht in eine gute Richtung entwickeln. Wie es Snyder selbst, der in den USA lebt, empfindet. Was sind die Lektionen, die Snyder uns mitgibt?

Es sind unter anderem:

  • Keinen vorauseilenden Gehorsam leisten, Institutionen verteidigen, Verantwortung übernehmen.
  • Und: So mutig zu sein wie möglich.

Denn, so schreibt Snyder mit Blick auf das vergangene Jahrhundert: "Weil sich genügend Menschen freiwillig in den Dienst der neuen Führung stellten, merkten Nazis und Kommunisten gleichermaßen, dass sie rasch einen vollständigen Regimewechsel in Angriff nehmen konnten."

Deshalb: Danke noch einmal, sehr geehrte Frau Professor Münkel und sehr geehrte Herren Professoren.

Landwirtschaft im Wandel der Zeit

Aber auch aus politischer Sicht nehme ich einen wichtigen Punkt mit. Aus Ihrem Gutachten wird deutlich, dass unser Ministerium häufig eine grundsätzlich pro-europäische Perspektive eingenommen hat. Den Zusammenhang zwischen Europäischer Integration, Landwirtschaft und der Sicherung der Ernährung kann man nicht genug betonen. Ganz einfach: Weil ein leerer Magen eben keinen Frieden findet. Auch deshalb stehen Landwirtschaft und Agrarpolitik am Anfang der europäischen Integration.

Eine produktive Landwirtschaft, Marktstabilisierung und Versorgungssicherheit sowie angemessene Verbraucherpreise wurden als Ziele einer Gemeinsamen Agrarpolitik in den Römischen Verträgen von 1957 verankert. Damit wurde die Grundlage für einen gemeinsamen Binnenmarkt geschaffen. Für ein friedliches Miteinander durch Versöhnung und Wohlstand.

Die weitere Entwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik stellte unser Landwirtschaftsministerium ab dem Ende der 1980er Jahre vor neue Aufgaben.

Beginnend mit der Einführung der Milchquote 1984 und der McSharry Reform 1992 ging es etappenweise weg von Butterbergen und Milchseen. Hin zu entkoppelten Direktzahlungen, den Anforderungen von Cross Compliance und Greening. Auch die integrierte Entwicklungspolitik für ländliche Räume wurde ein zentrales Element der Gemeinsamen Agrarpolitik. Auch das ist ein Ziel, das weiter hochaktuell ist.

Zurzeit bereiten wir uns auf die Ratspräsidentschaft vor. Darauf, die Gemeinsame Agrarpolitik weiterzuentwickeln. Eine Agrarpolitik, die unbürokratischer werden soll, unsere Landwirtsfamilien unterstützt und für hohe Standards in Fragen des Umwelt-, Klima- und Tierschutz steht. Die auch die Basis bilden muss für eine hohe Akzeptanz und Wertschätzung unserer Landwirtschaft. Dafür tragen auch wir Verantwortung. Mit unserer Gestaltung der Ratspräsidentschaft auch für die Weiterentwicklung und Akzeptanz der Europäischen Union.

Unser früherer Bundespräsident Horst Köhler hat es so formuliert: "Die Gegenwart begreifen und die Zukunft gestalten – das sind Aufgaben, für die ein klarer Blick auf die Vergangenheit unverzichtbar ist." Dazu gehört auch, sich seiner Vergangenheit bewusst zu sein und wo nötig, diese Vergangenheit kritisch zu hinterfragen. Dazu haben Sie mit Ihrem Buch einen wichtigen Beitrag geleistet. Einen Beitrag für das Erinnern und gegen das Vergessen. Denn: Nur wer ständig erinnert, verhindert das Vergessen.

Lassen Sie uns das beherzigen, wenn wir gemeinsam die Zukunft gestalten!

Vielen Dank.

Erschienen am im Format Rede

Ort: Berlin


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