Wir brauchen weiter Ausdauer

Rede von Bundesministerin Julia Klöckner auf dem SZ-Wirtschaftsgipfel

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

Vor Corona und in Telefonkonferenzen sind wir alle gleich

Ich freue mich, hier zu sein. Um mit Ihnen gemeinsam den "Weg aus der Krise" [= Veranstaltungstitel] zu finden. Und um über unsere Erfahrungen zu sprechen.

Eines kann ich Ihnen verraten: Auch in Telefonkonferenzen mit Bundesministern gibt es Teilnehmer, die lautstark den Geschirrspüler ausräumen.

Erste Erfahrung ist also: Vor Corona und in Telefonkonferenzen sind wir alle gleich…

Phasen der Krise

Aber es gibt tatsächlich viele Erkenntnisse, die wir mitnehmen. Und die über die richtige Bedienung des Telefons in Telefonkonferenzen hinausgehen.

Ich will Sie deshalb heute

  • Erstens: Noch einmal mitnehmen, in die Zeit ab Februar 2020.
  • Und zweitens: Gemeinsam mit Ihnen ein erstes Fazit ziehen.
  • Um drittens: Den Blick in die Zukunft lenken.

Für mich teilen sich die Krisenerfahrungen in drei große Abschnitte: Als erstes die „Vor-Phase“, in der die Krise aufzieht.

  • Sie erinnern sich: Es gibt erste Meldungen über ein neues Virus in China, am 6. Januar berichtete die Tagesschau zum ersten Mal.
  • Am 27. Januar bestätigt das bayerische Gesundheitsministerium dann den ersten Fall in Deutschland.
  • Und im Februar erreichen uns schon die Berichte und Bilder aus Bergamo.

Fallzahlen steigen, Ansteckungswege sind noch unklar. Es gibt vor allem Unsicherheiten, Ohnmachtsgefühle.

Diese Vor-Phase wird dann zum Glück schnell abgelöst von einer 2. Phase, die ich als Krisen-Management-Phase bezeichnen will.

Mit ihr gelingt uns etwas ganz Wichtiges: Wir schaffen es, der Krise eine Struktur zu geben. Es werden Gremien eingesetzt, ein Corona-Kabinett, das regelmäßig tagt und regelmäßig informiert. Überall wird der Arbeitstakt hochgefahren:

  • Um Regelungsbedarfe zu identifizieren.
  • Und abzuwägen: Wo ist Handlungsbedarf? Wo braucht es Ausnahmen?

In der Land- und Ernährungswirtschaft zum Beispiel. Hier hatten wir ja tatsächlich Mitte März die Situation, dass Menschen in den Supermarkt gegangen sind und vor leeren Regalen bei Obst und Gemüse standen.

  • Weil die LKW an der Grenze nicht abgefertigt worden sind.
  • Hamsterkäufe haben das Gleichgewicht in der Lebensmittelkette aus dem Gleichgewicht gebracht.
  • Das Forschungsinstitut GfK hat Anfang März Zahlen veröffentlicht, danach lag bei Fisch- und Obstkonserven der Umsatz-Anstieg bei 70 Prozent, bei Pasta bei 73 Prozent, bei Gemüsekonserven bei um die 80 Prozent.

Die Folgen kennen Sie.

Aber wir hatten gleichzeitig das Problem, dass unsere Bauern Hilfe brauchten, um die Aussaat und die bald beginnende Spargel- und Erdbeerernte zu bewältigen. Das heißt: Es gab echte Risiken, wenn bei geschlossenen Grenzen geschätzte 300.000 Saisonarbeitskräfte fehlen würden.
Bereits Mitte März haben wir dann ein erstes Maßnahmenpaket im Kabinett verabschiedet, für die Landwirtschaft mit der wichtigen Klarstellung: Die Branche ist systemrelevante Infrastruktur. Und mit vielen Einzelpunkten:

  • Mit Programmen für die Sicherung der Liquidität der landwirtschaftlichen Betriebe.
  • Mit dem Bundesprogramm „Corona-Soforthilfen für kleine Unternehmen und Soloselbständige“.
  • Ein sehr wichtiger Punkt war eben die Sicherstellung des ungehinderten Warenverkehrs in der EU. Ohne den es tatsächlich schlechter ausgesehen hätte.

In vielen Bereichen liegt unser Selbstversorgungsgrad zwar über 100 Prozent:

  • Aber bei Gemüse nur bei rund 36 Prozent
  • Und bei Obst sogar nur bei rund 22 Prozent.

Für mich ist diese Phase ein Lehrstück für die Leistungsfähigkeit unseres Landes.

Laut Rheingold-Institut, das viel mit tiefenpsychologischen Interviews arbeitet, haben die Menschen diese Zeit als einen beispiellosen Schulterschluss wahrgenommen. Zwischen Virologen, Politikern, Medien und Bürgern.
Man selbst fühlt sich als Teil einer "Schicksalsgemeinschaft".

Politik ist nahbar und findet Anerkennung. Auch und gerade dadurch, dass Wissenschaft mit unterschiedlichen Positionen gehört wird. Deshalb hatte ich auch nie das Gefühl, wir sind "zwischen Wirtschaft und Wissenschaft", wie Sie, Herr Beise, es formuliert haben. Sondern es war tatsächlich ein gemeinsames Ringen um den bestmöglichen Weg.

Nach diesem Kraftakt hat eine dritte Phase begonnen, die "neue Normalität". Mit dem Wissen: Corona wird uns länger begleiten. Und der Notwendigkeit, weiterzumachen:

  • Mit den Vorbereitungen für die EU-Ratspräsidentschaft.
  • Und einer europäischen Bürokratie, die weit weniger als wir auf digitales Arbeiten eingestellt war.
  • Mit zentralen Projekten national:

    • Für die Landwirtschaft nicht weniger als der Systemwechsel, den wir gerade eingeleitet hatten.
    • Mit enormen Investitionsprogrammen für eine moderne digitale und präzisere Landwirtschaft.
    • Mit einer Umgestaltung der Tierhaltung.

Wir mussten also die Taktung halten und weiter dafür sorgen, dass alle mitziehen. Und das alles mit Telefon- und Videokonferenzen, die den Informationsaustausch ermöglichen. Aber eben nicht das direkte Gespräch ersetzen.

Am 12. Juni kam dann das Konjunkturprogramm von 130 Milliarden Euro. 57 Einzelmaßnahmen auf 15 Seiten. Ein Blick nach vorn, mit Investitionen, die bleiben. Und wir haben angefangen, die weniger zeitkritischen Punkte zu regeln. Zum Beispiel haben wir:

  • Auf europäischer Ebene durch so genannte Interventionen Preise bei Produkten stabilisiert, bei denen durch Corona die Nachfrage fehlte.
  • Wir haben ein Unterstützungsprogramm für Ehrenamtliche gestartet, die auf dem Land Nahversorgung organisieren.
  • Und wir haben unsere Fördermittel für die Tafeln ausgestockt, die ganz massiv unter der Pandemie gelitten haben und immer noch leiden.

Mein Fazit daraus sind drei Punkte:

Erstens: Unsere Krisenmechanismen funktionieren. Und wir sind – obwohl noch mitten in der Krise – gleichzeitig dabei, in resiliente Strukturen für morgen zu investieren.

Zweitens: Politik hatte am meisten Rückhalt, als sie einen Blick hinter die Kulissen zugelassen hat. Ich denke hier an die Ansprachen der Bundeskanzlerin. Die immer wieder klar macht: Jede Entscheidung beruht auf einem Abwägungsprozess. Zwischen wissenschaftlichen Fakten und dem, was politisch möglich und gesellschaftlich tragbar ist. Mit einem Kompromiss – der auch umstritten sein darf. Daran müssen wir anknüpfen, so muss es weitergehen: Im Dialog, durch ständiges Erklären von Politik und ihren Prozessen.

Und drittens: Der Weg aus der Krise kann nur ein gemeinsamer europäischer Weg sein. Denn es ist deutlich geworden, wie elementar offene Grenzen, der freie Warenverkehr sind. Ein funktionierender europäischer Binnenmarkt mit stabilen Lieferketten und der Freizügigkeit von Arbeitskräften ist die Grundvoraussetzung für ein funktionierendes europäisches Lebensmittelsystem.

Wir brauchen weiter Ausdauer

Jetzt hatten wir uns gewünscht, dass wir schnell in eine vierte Phase weiterer Lockerungen kommen. Aber es zeigt sich: wir brauchen Ausdauer. Das ist nicht immer leicht. Die Bundeskanzlerin hat es hier gestern gesagt: "Auch 2021 wird ein anspruchsvolles Jahr. Der Weg aus der Krise ist mühselig". Und sie hat zu Recht betont, dass es an uns liegt, wie wir auf diesem Weg vorankommen. Aber unser Vorteil heute ist: Wir wissen, dass wir gut aufgestellt sind.

Da, wo Strukturen an Grenzen gekommen sind, sind die Prozesse zur Nachjustierung angelaufen. Bei mir im Ministerium haben wir eine Agenda entwickelt mit Themen, bei denen wir Handlungsbedarf sehen.

  • Bei der Frage: Welche Lebensmittel muss der Staat, welche der einzelne Bürger vorrätig halten? Müssen wir hier eventuell Anpassungen vornehmen?
  • Was muss eine sinnvolle Vorratshaltung zuhause aussehen?
  • Wir haben auch erste wissenschaftliche Einschätzungen von unserem ressorteigenen Thünen-Institut zu möglichen längerfristigen Folgen.
  • Höhere Auflagen, zum Beispiel durch den Infektionsschutz am Arbeitsplatz, werden auch höhere Kosten verursachen. Wir sehen das jetzt schon in den Schlachthöfen.
  • Just in Time Logistik muss durch resilientere Strukturen mit weniger Akteuren und mehr Lagerkapazitäten ersetzt werden.

Das kostet Geld.

Wir gehen wegen der Saisonarbeiterfrage von einem größeren Interesse an Mechanisierung und Automatisierung aus. Und Automatisierung, das wissen Sie, bedeutet hohe Investitionen.

Der Weg aus der Krise bedeutet für mich deshalb:

  • Dass wir weiter für Liquidität sorgen.
  • Wir können darüber hinaus für den Moment versuchen, die Einschränkungen, mit denen die Wirtschaft leben muss, auszugleichen.
  • Indem wir an anderen Stellen die Spielräume erweitern. Zum Beispiel bei Arbeitszeiten können wir, wo es gewünscht ist, Wochenendarbeit möglich machen.
  • Wir können Innovationen fördern.
  • Zum Beispiel indem wir kleineren Betrieben helfen, die Technologiesprünge mitzumachen, die durch die Krise beschleunigt werden, Stichwort Digitalisierung und Kooperationen.

Wir haben aus der Erfahrung der Krise, der kurzzeitigen Knappheit bei einigen Lebensmitteln, Rückenwind für die Landwirtschaft. Dieses Interesse an der Herstellung von Lebensmitteln hat zum Teil absurde Folgen: Zum Beispiel einen Trend zur privaten Hühnerhaltung.

Aber: Beschicker von Wochenmärkten berichten ganz konkret, dass Kunden mehr Wertschätzung für die Waren zeigen. Um 20 bis 30 Prozent sind die Umsätze von Wochen- und Bauernmärkte, von Hofläden während der Pandemie in einzelnen Regionen gestiegen.

Bei den neuen Haushühnern hält der Trend nur kurz, viele der Tiere landen schon wieder im Tierheim.

Aber ich wünsche unseren Bauern, dass sich diese Wertschätzung hält. Damit Wertschätzung und Wertschöpfung wieder zusammenfinden. Als Basis für eine regionale, nachhaltige, familiengeführte Landwirtschaft, greifbar für die Verbraucher.
Es bleibt also viel zu tun. Zwei Aufträge nehmen wir für uns mit aus der Krise:

  • Wir brauchen weiter den Dialog. Ein Verständnis dafür, dass der Kompromisse kein Ausdruck des Versagens ist, sondern die eigentliche Kunst.
  • Wir müssen stärker für Europa zu werben, für die Freizügigkeit, für gemeinsames solidarisches Miteinander.

Und ich hoffe sehr, dass wir dazu bald wieder das wichtigste Instrument zurückbekommen, das wir haben: das persönliche Gespräch. Ohne Mindestabstand und ohne Maske.

Erschienen am im Format Rede

Ort: Berlin


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