Essen ist mehr als satt werden, Essen ist politisch geworden

Bundesministerin Julia Klöckner: Eröffnung ANUGA, Köln, 9. Oktober 2021

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

Thema ist so emotional. Essen ist in unserem Land nicht mehr nur Geschmacksache. Oder die Frage, ob man satt wird. Essen ist ein wichtiges Kulturgut. Essen ist politisch geworden.

Ausdruck unserer Persönlichkeit, unserer ganz privaten Lebensphilosophie ist das Essen Aber auch die Frage, was ist korrekt, welchen Fußabdruck hinterlasse ich mit meinem Konsum. Diese Fragen rücken in den Fokus, weil auch eines angeblich selbstverständlich geworden ist: Lebensmittel sind einfach da.

Dennoch sollte uns allen bewusst sein: Das, was wir hier heute erleben, was Sie hier präsentieren, eine große Ernährungsmesse mit unzähligen Neuheiten:

Das zeigt auch, wie gut es uns geht. Dass wir uns nicht fragen müssen, ob Nahrungsmittel da sind, sondern welche. Und dafür möchte ich Danke sagen. Gerade auch in dieser Jahreszeit, in der wir das Erntedankfest feiern.

Fakt ist also: Wir müssen in unserem Land nicht an Nahrungsmangel leiden. Und wir stehen dennoch vor gewaltigen Herausforderungen. Denn es geht immer mehr um Implikationen unseres Konsums. Gerade die Jüngeren unter uns verstehen sich als „politicised eaters“: Ihre Ernährung ist vielfach Ausdruck der eigenen, auch politischen Identität. Jüngere Erwachsene achten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung noch stärker auf die Aspekte „weniger Fleisch“, „Bio-Lebensmittel“, „High-Protein“ oder „Superfood“. In der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen ernähren sich 10,3 Prozent vegetarisch, 2 Prozent vegan und 23,8 Prozent flexitarisch. Als Hauptgründe nennen sie den Klimaschutz und die Vermeidung von Tierleid.

Unsere gesellschaftlichen Ansprüche wirken sich auf unser Essen aus. Und: Die Ansprüche sind vielgestaltig und hoch differenziert. Nicht umsonst boomen Convenience-Lösungen, Produkte mit erkennbarer regionaler Herkunft oder Alternativen zu tierischen Produkten.

Viele dieser Lösungen sehen wir hier: Es gibt eine eigene Sonderschau für die Produktneuheiten. Mit den Schwerpunkten pflanzliche Proteine und alternative Fleischproteine. Auch Produkte mit gesundheitsorientierten Zusatznutzen und natürlichen Zutaten ohne künstliche Farbstoff stehen dort im Mittelpunkt. Das Thema zellbasiertes Fleisch wird intensiv in den nächsten Tagen erörtert werden. Wird der 3D-Drucker oder die Petri-Schale die Rinderhaltung überflüssig machen? All diese Debatten müssen wir jetzt führen.

Konsumentscheidungen sind individuell, Informationen dazu wichtig

Aber manches ist bei dieser Debatte auch paradox!

Geht es um Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Gemüse oder Fleisch: Dann wird gespart im Cent-Bereich. Produkte unserer Landwirtschaft, für die zu oft die Wertschätzung fehlt. Dabei müssen wir uns bewusst machen: Wenn wir als Kunden unseren Einkaufskorb zusammenstellen, dann bestimmen wir mit unserer Nachfrage auch das Angebot. Mit jedem Produkt, das wir auswählen, lösen wir eine Bestellung aus – auch in Richtung unserer Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft.

Und eigentlich ist alles ganz einfach: Denn wer Bio auf den Feldern will, muss Bio kaufen. Wer er mehr Tierwohl in den Ställen will, muss Tierwohl kaufen. Wer dem Klimawandel ganz praktisch begegnen will, kann zu saisonalen Lebensmittel greifen.

Und, man wagt es auf einer Ernährungsmesse kaum zu sagen: Viele können für sich und das Klima etwas tun, wenn sie nur so viel essen, wie es ihrem körperlichen Bedarf entspricht.

Ernährungsumgebung verbessern, die richtige Wahl erleichtern

Ziel unserer Politik ist es deshalb, Verbraucher zu unterstützen. Und das im Sinne einer gesundheitsförderlichen, ausgewogenen und ressourcenschonenden Ernährung.

Dazu gehören

  • erstens die Förderung ausgewogener und dem Bedarf angepasster Ernährungsmuster, denn sie kommen nicht nur den einzelnen Menschen, sondern auch der Umwelt zugute. Das fängt in Kita und Schule an.
  • Zweitens die Vermeidung von Lebensmittelabfällen.
  • Dritter Punkt: die Forschung, um neue Lösungen zu finden, beispielsweise zu effizienteren Produktionsweisen, zu neuen Proteinquellen.

Für alles das ist auch in Zukunft ein ganzheitlicher Ansatz nötig. Was das heißt: Wir müssen Verbraucherinnen und Verbraucher bei der Lebensmittelauswahl unterstützen. Indem wir ihre Ernährungskompetenz stärken und indem wir die Ernährungsumgebung und damit auch das Angebot verbessern.

Denn wir wissen: Je kompetenter Verbraucherinnen und Verbraucher sind, desto leichter fällt es ihnen, die zu ihrer Lebenssituation passenden Entscheidungen in Sachen Ernährung zu treffen. Und wir wissen auch: Die Ernährungsumgebung bestimmt das Verhalten des Einzelnen mit. Gesunde, vielfältige Ernährung, die praktikabel ist und schmeckt - das wird immer gefragter.

Hinzu kommt die Wertschätzung: Es muss uns gelingen klarzumachen, welche Ressourcen und welche Arbeit in unseren Lebensmitteln stecken. Damit dann weniger Lebensmittel in der Tonne landen und Lebensmittel auch ihr Geld wert sind.

Schluss

In all diesen Bereichen haben wir in den vergangenen Jahren viel geleistet.

Sei es durch die Kita-, Schul- und Seniorenvernetzungsstellen zur Ernährungsberatung. Deren Ausstattungen wir verdoppelt haben. Sei es durch die Gründung eines neuen Institutes zur Kinderernährung, denn in jungen Jahren werden die Grundlagen gelegt. Oder sei es durch die Eröffnung unserer Ernährungsrepräsentanz in Berlin „Checkpoint Ernährung“, wo Bürgerinnen und Bürger sich intensiv mit den Hintergründen, der Entstehung und Bedeutung unseres Essens auseinandersetzen können.
Wir haben die Ernährungspolitik in Deutschland messbar auf ein neues Niveau gehoben.

Mit einer klaren Überzeugung: Ernährungspolitik sollte keine grundsätzliche Verbotspolitik sein. Sie bewirkt sonst das Gegenteil, in Zeiten der weltweiten Bestellmöglichkeiten. Eine solche Politik würde zwangsläufig scheitern. Einsicht, Bewusstsein und Rahmenbedingungen, die nachhaltig wirken, sind wichtig.
Jeder Erwachsene muss in die Lage versetzt werden, entscheidungsfähig zu sein.

Bei Heranwachsenden haben wir eine Fürsorgeaufgabe. Heranwachsende müssen geschützt werden. Es gab gute Gründe, dass ich die Süßung von Babytees verboten habe. Aber es gibt auch gute Gründe, auf eine Zucker- oder Fettsteuer zu verzichten, weil sie zu kurz greift. Und am Ende nicht zum Ziel führt, dass wir uns insgesamt ausgewogener ernähren. Dazu bedarf es anderer Wege, nicht symbolischer Akte. Unsere nationale Reduktions- und Innovationsstrategie bei Fertiglebensmitteln ist umfassender, und sie wirkt, messbar! Denn wir nehmen nicht nur Zucker, sondern auch Salz und Fette in den Blick - und machen die Rechnung nicht ohne den Geschmack der Verbraucher. Es ist eine Wissenschaft für sich, deshalb forschen und begleiten wir die Ernährungswirtschaft mit unserem Max Rubner-Institut bei der Reformulierung der Lebensmittel.

Erstmalig haben sich zahlreiche Verbände der Lebensmittelwirtschaft dazu verpflichtet, Zucker, Salz, Fette und Kalorien in ihren Produkten zu reduzieren. Die Strategie wirkt – das zeigt die wissenschaftliche Überprüfung:

  • innerhalb von einem Jahr 35 Prozent weniger Zucker in Erfrischungsgetränken für Kinder,
  • 20 Prozent weniger in Joghurts für Kinder
  • und eine deutliche Salz-Reduktion bei verpacktem Brot sind das bisherige Ergebnis.

Und es geht weiter. Einfach besser essen können – darum geht es. Und das haben wir auch erreicht!

Wir haben die Ernährungsumgebung verbessert und den Nutri-Score eingeführt. So machen wir eine bessere Zusammensetzung der Lebensmittel sichtbar, so machen wir die Erfolge unserer gemeinsamen Reduktionsstrategie erkennbar. Schon 233 Unternehmen mit 452 Marken machen mit. Und es ist gut, dass im Laufe des Prozesses auch über den dahinter liegenden Algorithmus gesprochen wird, dass wir mit Frankreich und anderen Ländern zusammen Schwachstellen beheben.

Der nächste Schritt ist jetzt klar: Wir brauchen ein EU-weit einheitliches Nährwertkennzeichen. Das ist gut für die Konsumenten und die Produzenten, damit alle überall in der EU von mehr Transparenz, von mehr Information profitieren können - und nicht für jedes Land ein anderes Label gedruckt werden muss.
Und mit einer klar strukturierten Strategie gehen wir vor gegen die Verschwendung und das Wegwerfen von Lebensmitteln. Für mehr Wertschätzung und Ressourcenschutz.

Sehr geehrte Damen und Herren der Ernährungswirtschaft und des Handels, Sie sind eine wichtige Wirtschaftsgröße in unserem Land. Sie tragen nicht nur bei zu Ernährungssicherung, Versorgung und Genuss, Sie stehen für Innovation und Tausenden von Arbeitsplätzen und den Wunsch, sich weiterzuentwickeln.

Zugegeben, ich habe Ihnen auch einiges an Umstellungen im Sinne der Konsumenten zugemute. Für den immer offenen Austausch möchte ich mich bei Ihnen ausdrücklich bedanken. Und ich halte wenige davon, unsere Gesellschaft in die Guten und die Schlechten zu unterteilen. Es ist eine Unsitte geworden, der Wirtschaft per se etwas Schlechtes zu unterstellen, das Gespräch mit der Ernährungsbranche als platten Lobbyismus abzutun und Kampagnen-Aktivitäten von Aktivistengruppen hingegen als per se faktisch richtig und unhinterfragt hinzunehmen. Das kritisch-konstruktive Miteinander ist und bleibt wichtig, aber Gesinnungsschubladen machen unsere Gesellschaft nicht besser, sondern hemmen sie.

In diesem Sinn freue ich mich auf den Rundgang gleich auf der Anuga 2021 und den Austausch mit Ihnen.

Herzlichen Dank!

Erschienen am im Format Rede

Ort: Köln


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