Engagement und Ehrenamt tragen unsere Demokratie

Rede von Bundesminister Cem Özdemir zur Eröffnung des 15. Zukunftsforums Ländliche Entwicklung

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

herzlich Willkommen beim 15. Zukunftsforum Ländliche Entwicklung. Dem größten Bürgerforum der ländlichen Räume. Über 2.500 Akteure haben sich in diesem Jahr angemeldet. Eine Hammerzahl, wenn man bedenkt, dass wir uns ausschließlich digital austauschen können.

Wir lieben und wertschätzen das Landleben. Für sieben von zehn Menschen in Deutschland sind ländliche Regionen attraktive Orte zum Leben. Auf dem Land sind es sogar 80 Prozent. Und die müssen es ja wissen. Der Grund hierfür ist nicht – Sie ahnen es - das stabile Mobilfunknetz. Und auch nicht der öffentliche Nahverkehr im Minutentakt.

Ländliche Räume sind attraktive Lebensräume, weil hier Herausforderungen als Chancen gesehen und genutzt werden. Hier werden Projekte gemeinsam gestemmt. Hier übernehmen Menschen miteinander Verantwortung, dass der Laden läuft. Wer ländliche Entwicklung ohne diese soziale Dimension denkt, der denkt zu kurz. Was helfen die schönsten Fassaden und Dorfplätze, wenn der Zusammenhalt bröckelt, weil man sich kaum noch begegnet? Diese soziale Dimension, wurde lange Zeit – auch von der Politik - außer Acht gelassen. Zu Unrecht.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will hier nichts schönreden. Und auch nichts ausklammern: Die wirtschaftliche Dimension ist elementar. Der Arbeitsplatz – möglichst nah am Wohnort. Und auch die Daseinsvorsorge: Schulen, Ärztinnen, Mobilität, Internet, Nahversorgung. Ohne das funktioniert es nicht. Wir brauchen beides: Wir brauchen einen ganzheitlichen Blick in unsere ländlichen Regionen.

Ich komme selbst aus einer sehr ländlichen Region. Aus Bad Urach, im Herzen der schwäbischen Alb.

Ich sehe mein Ministerium als Zukunftsministerium für ländliche Räume. Ein Ort, der die Menschen vor Ort unterstützt. Ein Ort, der mit den Akteuren vor Ort Ideen entwickelt. Ein Ort, der Raum und Möglichkeiten schafft, um Ideen auszuprobieren.

Engagement und Ehrenamt tragen unsere Demokratie

Ich halte den Zusammenhalt in Deutschland für besser als sein Ruf. Und das liegt an Menschen wie Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren. Bürgerinnen und Bürger, die sich mit Leidenschaft und Engagement für die Gemeinschaft einsetzen. Die gestalten, anstatt zu spalten.

Lassen Sie mich an dieser Stelle, Ihnen allen „Danke“ sagen: Mit Ihrem Engagement machen Sie unser Land zu einem besseren Ort, jeden Tag. Ich selbst stünde nicht hier, wenn es in meiner Jugend nicht viele Menschen gegeben hätte, die mir in ihrer Freizeit Nachhilfe in Deutsch gegeben, mir bei den Hausaufgaben geholfen, oder mich mit nach Hause genommen haben. Stellvertretend möchte ich eine Person nennen: Dank Frau Naumann schaffte ich den Übergang von der Hauptschule an die Realschule. Sie gab mir Selbstvertrauen und die Zuversicht, dass ich das irgendwie packe. Frau Naumann war meine Heldin. Davon brauchen wir mehr!

Wir leben in dynamischen Zeiten. Unser Land, unsere Gesellschaft befinden sich in einem Transformationsprozess. Klimawandel, Globalisierung und Digitalisierung verändern unser Leben, ob wir wollen oder nicht. Das macht vielen Menschen Angst. Diese Angst sollten wir ernstnehmen. Denn wenn wir das nicht tun, öffnen wir demokratiefeindlichen Kräften Tür und Tor. Engagement und Ehrenamt sind die besten Mittel gegen Angst, Frustration und Passivität. Und damit eine unverzichtbare gesellschaftliche Ressource. Für mich ist eines klar: Die anstehenden Transformationsprozesse werden wir nur gemeinsam mit einer aktiven Zivilgesellschaft meistern.

Engagementpolitik: Schaffung gleichwertiger Engagementverhältnisse

Engagement und Ehrenamt sind von ihrem Wesenskern her selbstbestimmte Handlungsformen. Das heißt, dass sie sich direkter politischer Steuerung entziehen. Das heißt aber nicht, dass Politik sie nicht fördern und unterstützen kann und sollte. Und da komme ich ins Spiel. Im Koalitionsvertrag steht: „Ehrenamt und demokratisches Engagement stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie verlässlich zu fördern, ist unsere Aufgabe.“ Ja, Engagement ist von sozioökonomischen Ressourcen abhängig – man muss es sich leisten können. Oder, wie wir im Ländle sagen: Des koscht was. Und zwar Zeit, Geld und natürlich Herzblut. Engagement und Ehrenamt brauchen gute Rahmenbedingungen und verlässliche Infrastrukturen.

Menschen, die vor Ort Verantwortung übernehmen und sich aktiv für unsere Demokratie einsetzen, müssen gestärkt werden. Ihre Arbeit muss sichtbar gemacht und gewürdigt werden. Das bedeutet: Instrumente müssen stärker ineinandergreifen: Vernetzung lautet hier das Zauberwort. Und um gleich ein zweites Zauberwort zu nennen: Die Digitalisierung im ländlichen Engagement und Ehrenamt muss gestärkt werden – das hat gerade die Pandemie gezeigt. Ich verstehe mich als Anwalt der Engagierten in den ländlichen Regionen und Orten. Ich werde Ihre Arbeit unterstützen und mich für gleichwertige Engagementverhältnisse einsetzen.

Das heißt konkret: Ich will die Stärkung ländlicher Orte von ihren Bewohnerinnen und Bewohnern her denken. Zuhören, wo der Schuh drückt. Engagierte stärker in Entscheidungsprozesse einbinden. Dies gilt auch für die Herausforderungen der sozial-ökologischen Transformation, die vor uns liegen. Ich denke nur an das Ziel, zwei Prozent der Landfläche für Erneuerbare Energien zu nutzen. Wir müssen die Menschen vor Ort beteiligen, zum Beispiel bei der Frage, wie die Energiewende gelingen kann. Ich weiß, Beteiligung ist manchmal mühsam, aber sie lohnt sich. Denn Zivilgesellschaft ist DER Ort sozialer Innovation. Das gilt besonders auch für junge Menschen, denn sie sind von unseren Entscheidungen – oder Versäumnissen! – langfristig am meisten betroffen sind. Deshalb will ich die Jugendbeteiligung in den Politikbereichen meines Ministeriums stärken. Die Gründung der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt war ebenfalls ein wichtiger Schritt. Sie leistet eine großartige Arbeit. Und wir haben im Koalitionsvertrag vorgesehen, dass sie dafür noch mehr Mittel bekommen soll.

Gute Rahmenbedingungen heißt auch: rechtliche Rahmenbedingungen, die auch zu den Bedarfen kleiner Vereine und Initiativen passen, so wenig Bürokratie wie möglich, leicht zugängliche Fördermöglichkeiten, Planungssicherheit und vor allem: Kommunen, die ein offenes Ohr für die Anliegen der Vereine und Initiativen haben.

Hier möchte ich genauer hinschauen: Wie kann es auch kleinen, teils auch finanzschwachen Gemeinden gelingen, Ehrenamt noch besser zu stärken? Ich werde das Thema in den kommenden Monaten mit Experten und Vertretern der Zivilgesellschaft diskutieren. Mein Ziel ist, im Bundesprogramm Ländliche Entwicklung, in einem neuen Projekt zu erproben, welche innovativen Ansätze es hier gibt.

Politik für eine aktive und vielfältige Zivilgesellschaft

Ja, Ehrenamt und Engagement stoßen Veränderungen an. Dazu gehört auch die Akzeptanz von Vielfalt. Vielfalt ist nicht der Grund für Spaltung. Auch wenn uns dies manch einer glauben machen möchte. Sie birgt ganz im Gegenteil das Potenzial in sich zu einen. Nachwuchsförderung ist auch eine Frage der Offenheit und Willkommenskultur. Wo Menschen unterschiedlicher Herkunft oder Lebenswelten zusammenkommen, weitet sich der Horizont, wächst Akzeptanz, Verständnis und Vertrauen. Deswegen ist gerade in unruhigen Zeiten Engagement wichtiger denn je. Lassen Sie uns gemeinsam eine Vision für eine aktive und vielfältige Zivilgesellschaft entwickeln: Für Orte, an denen sich jede und jeder Einzelne zugehörig fühlen kann. Und zwar unabhängig von Herkunft, Alter, Geschlecht, Religion oder sozialem Status.

Wen interessiert es, wen der Fußballtrainer datet? Woher die Feuerwehrkommandantin „wirklich“ kommt? Oder an was die Frau glaubt, die die Gemeindebücherei betreut. Das ist doch überhaupt nicht wichtig! Wichtig ist, dass wir Leute haben, die sich für ein vielfältiges Angebot, für ein friedliches Miteinander engagieren. Für Gleichwertigkeit, Respekt, Toleranz und Vertrauen. Denn das sind wesentliche Bestandteile unserer Demokratie. Sie stärken unser Zusammenleben.

Kleine Bemerkung am Rande: Der Bund der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften hat sich 2017 dazu entschieden, dass auch Muslime Schützenkönig werden dürfen. Da kann ich nur sagen, Volltreffer! Zugehörigkeit durch Engagement kann auch einen Bleibefaktor für Menschen mit Migrationshintergrund sein. Denn Integration gelingt dort am besten, wo der Zusammenhalt vor Ort funktioniert. Und wer bleibt, bringt vielleicht seine berufliche Erfahrung als Fachkraft in einem Unternehmen in der Region ein. Eine echte Win-Win-Situation.

Bei einem müssen wir ganz klar sein: Wir wehren uns gegen jede Form von Engagement, das die Gleichheit aller Menschen verachtet und unsere demokratische Kultur einreißen will. Diese Gedanken werde ich auch in die Entwicklung der Nationalen Engagementstrategie einbringen, wie wir sie im Koalitionsvertrag verankert haben.

Ich freue mich sehr, dass heute meine schwedische Amtskollegin Anna-Caren Sätherberg dabei ist. Liebe Anna-Caren, dein Land hat viel Erfahrung damit, auch dünn besiedelte Räume so zu entwickeln, dass sie den Menschen eine attraktive Zukunft bieten. Ich bin überzeugt, dass wir viel voneinander lernen können.

Anrede,

Jetzt sind Sie dran. Tauschen Sie sich aus, vernetzen Sie sich, streiten Sie, ringen Sie gemeinsam um die besten Lösungen. Ich freue mich sehr dabei zu sein.

Und erkläre hiermit das 15. Zukunftsforum Ländliche Entwicklung für eröffnet!

Erschienen am im Format Rede

Ort: Berlin


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