Ernährung ist leider allzu oft eine soziale Frage.

Rede von Bundesminister Cem Özdemir beim Stadtgespräch der AOK Stuttgart am 25. August 2022

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

Die Sommerferien nähern sich allmählich dem Ende. In Berlin hat das neue Schuljahr bereits begonnen. Vielleicht waren Sie schon im Urlaub oder haben ihn noch vor sich. Ob wir in Griechenland, Italien, Spanien oder der Türkei urlauben, oder an der Ostsee, in Bayern oder im schönen Schwarzwald – viele Menschen bringen gerne etwas von ihrer Reise mit nach Hause. Ein leckeres Rezept, eine Flasche Olivenöl, ein Gewürz, Käse oder eine andere regionale Spezialität.

Wir verlängern damit den Urlaub auch ein Stück weit in den Alltag hinein, oder? Das ist nur eines der vielen Beispiele für den emotionalen Wert von Essen. Geschmäcker und Gerüche können Erinnerungen wecken und uns sofort an einen anderen Ort oder in eine andere Zeit katapultieren.

Hier und heute steht auf den ersten Blick weniger der emotionale Wert von Ernährung im Vordergrund. Wir wollen über die gesundheitlichen Aspekte verschiedener Ernährungsweisen sprechen − dabei insbesondere über Zucker.

Eine gute Ernährung fördert unser Wohlbefinden und unsere Lebensqualität. Und auch zuckerhaltige Lebensmittel haben eine emotionale Seite. Wer kennt es nicht, wenn der Griff in die Gummibärchentüte oder zum Schokoriegel kurzfristig die Stimmung hebt. Langfristig bezahlen wir dafür allerdings möglicherweise einen hohen gesundheitlichen Preis. Darüber reden wir heute.

Bei diesem Thema – Zucker in der Ernährung – hat sich in den vergangenen Jahren eine Menge getan: Viele Menschen haben ein Bewusstsein für sogenannten „versteckten Zucker“ in Lebensmitteln entwickelt. Denn Zucker wird vielen Lebensmitteln zugesetzt, in denen man ihn überhaupt nicht erwarten würde.

  • Wir schauen beim Einkauf genauer hin, studieren die Zutatenliste und die Nährwerttabelle auf der Produktrückseite.
  • Zahllose Bücher, Blogs und Zeitungsartikel widmen sich inzwischen einem Leben mit weniger oder ganz ohne Zucker. Sie liefern Rezepte und geben Tipps für den Alltag.
  • Eltern von Kita- und Schulkindern diskutieren leidenschaftlich über den Konsum von Süßigkeiten − und wie man es schafft, dass alles im Rahmen bleibt.

Das Angebot im Supermarkt passt sich diesen Entwicklungen an: Erfrischungsgetränke, Müslis oder Puddings ohne Zuckerzusatz oder zuckerreduziert sind keine Seltenheit mehr.

Doch trotz der gestiegenen Sensibilität für Zucker und gesüßte Lebensmittel, sind in Deutschland viele Menschen übergewichtig oder sogar adipös – leider oft schon im Kindesalter. Die Gründe dafür sind vielfältig. Eine zu hohe Zuckeraufnahme, ist dabei nur einer von vielen Einflussfaktoren. Unser Ernährungsverhalten ist äußerst komplex und durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Gewohnheiten geprägt.
Nicht alle Menschen, die sich besser ernähren wollen, können es auch. Vielleicht weil sie gar nicht die Informationen haben, um es zu tun. Anderen fehlt schlicht und einfach das Geld. Wie Studien zeigen, sind Personen mit niedrigem sozioökonomischen Status häufiger von Übergewicht und seinen Folgen betroffen. Ernährung ist leider allzu oft eine soziale Frage. Eine Frage der Fairness.

Was bedeutet das für die Ernährungspolitik in Deutschland? Welche Schlüsse ziehen wir daraus?

Kurz gesagt: Es muss schlichtweg für alle einfacher werden, sich gut, gesund und nachhaltig zu ernähren.

Es ist gut, wenn wir uns immer informieren und die Produkte beim Einkauf auf Herz und Niere prüfen. Aber im mitunter stressigen Alltag ist das nicht immer so einfach. Wir benötigen daher einen ganzheitlichen Ansatz, der gleichermaßen auf die Ernährungsumgebung einwirkt und die Ernährungskompetenz bzw. das Ernährungswissen der Verbraucherinnen und Verbraucher fördert.

Nur so erreichen wir mehr Menschen in Deutschland mit ernährungspolitischen Maßnahmen. Und zwar unabhängig von Alter, sozioökonomischem Status oder Sprachkenntnissen. Das bedeutet, dass es unsere Aufgabe als Politik ist, die passenden Rahmenbedingungen für eine gesunde und nachhaltige Ernährung zu schaffen.

Dabei geht es auch darum, das Klima zu schützen, unsere Lebensgrundlagen wie Boden, Wasser und Luft zu schonen und die Artenvielfalt zu schützen. Denn Ernährung und die Art, wie wir Lebensmittel erzeugen, was wir essen und ob wir verschwenderisch oder sparsam mit Lebensmitteln umgehen – das hat einen Einfluss auf Klima und Umwelt.

Und zugleich haben Klima und Umwelt einen enormen Einfluss darauf, ob und wie wir unsere Ernährung sichern und überhaupt erst ermöglichen können. Wir erleben einmal mehr einen Sommer mit immer neuen Rekordtemperaturen, Trockenheit und verheerenden Bränden weltweit und auch bei uns in Deutschland. Es kann wahrlich niemand mehr ernsthaft bestreiten, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun müssen, um der Klimakrise so zu begegnen, dass wir die Erde als lebenswerten Ort auch für unsere Enkelkinder und nachkommende Generationen bewahren.

Und dabei geht es auch um die Art und Weise, wie wir uns ernähren und wie wir mit unserem Essen umgehen − Stichwort Lebensmittelverschwendung. Auch deshalb entwickelt die Bundesregierung derzeit eine Ernährungsstrategie. Ende Juni hatten wir zu einer virtuellen Auftaktveranstaltung eingeladen. Die Resonanz war groß.

Ernährung ist ein emotionales Thema, sie ist aber eben auch ein politisches Thema, weil Ernährung mit vielen Aspekten wie Gesundheit, Klima- und Tierschutz zusammenhängt. Wir erleben ein enormes gesellschaftliches Interesse und eine große Bereitschaft, sich einzubringen. Es gab und gibt viele wertvolle Impulse der Teilnehmenden aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Verbänden und von weiteren Akteuren. Daraus erarbeiten wir gerade die Eckpunkte der Ernährungsstrategie. Ohne den Ergebnissen weiterer Diskussionen und Arbeiten an der Strategie vorgreifen zu wollen, kann ich einige der Vorhaben schon jetzt zumindest skizzieren.

  • Wir wollen, dass in Kitas, Schulen, Betrieben, in Krankenhäusern und Seniorenheimen besseres Essen grundsätzlich zur Norm wird. Was heißt "besser"? Besser im Sinne von gesund, nachhaltig und überwiegend pflanzlich. Eine Ernährungsweise, die Klima und Umwelt schont sowie regional bzw. saisonal geprägt ist. Über die Gemeinschaftsverpflegung können wir sehr viel erreichen. Sowohl für die Gesundheit vieler Menschen als auch für die Umwelt und das Klima. Für mich hat es auch etwas mit Wertschätzung zu tun, wenn in Kantinen gutes Essen angeboten wird. Das gilt für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch ganz besonders für unsere Kinder, also das Wertvollste, was wir haben.
  • Mit einem Wettbewerb wollen wir Regionen dabei unterstützen, gute und erfolgreiche Beispiele zu entwickeln, die dann auch bekannter werden und zum Nachahmen animieren. Denn das gehört zur erfolgreichen Umsetzung einer Strategie auch immer dazu, ob im Bereich der Ernährung, des Klimaschutzes oder in der Wirtschaft: Es gibt immer schon Pioniere. Pioniere, die vorangehen und Widerstände überwinden, die zeigen, was im Kleinen möglich ist − und was im Großen ermöglicht werden kann, wenn man gemeinsam an einem Strang zieht.
  • Zu unseren Zielen gehört auch, dass in den Supermärkten, beim Bäcker und beim Fleischer im Sinne der Gesundheit gute Lebensmittel zum Standard werden. Das bedeutet zum Beispiel, dass Brot und Wurst weniger Salz enthalten. Oder auch, dass Erfrischungsgetränke, Frühstückscerealien und Joghurts weniger Zucker enthalten. Um das zu erreichen, lassen wir die Grenzen der Reduktion von Zucker, Fetten und Salz wissenschaftlich prüfen und fördern innovative Forschungsvorhaben zur Reformulierung bzw. Rezepturveränderungen von Lebensmitteln.
  • Außerdem wollen wir Kinder unter 14 Jahren besser vor Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett - oder Salzgehalt schützen. Uns Erwachsenen fällt es ja schon schwer, zum Apfel statt zur Schokolade zu greifen. Sollten wir Kinder da nicht besonders schützen, bis sie dann als Erwachsene selbstbestimmt und informiert entscheiden können?
  • Wir arbeiten außerdem daran, dass es im Alltag leichter wird, bei der großen Auswahl im Supermarkt die Lebensmittel zu erkennen, die gesundheitliche Vorteile haben. Also beispielsweise unter den vielen Fruchtjoghurts in der Kühltheke schnell den zu erkennen, der zum Beispiel weniger Zucker enthält als die Konkurrenz. Die Verbraucherinnen und Verbraucher können über ihre Kaufentscheidung dafür sorgen, dass diese Konkurrenz dann nachzieht und auch weniger Zucker zusetzt. An dieser Stelle kommt der Nutri-Score ins Spiel, den viele von Ihnen sicher schon einmal auf Lebensmittelverpackungen gesehen haben. Auch andere europäische Staaten setzen bereits auf den Nutri-Score. Gemeinsam mit unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dieser Staaten entwickeln wir den Nutri-Score derzeit weiter. Auf diese Weise wird er Verbraucherinnen und Verbrauchern eine noch zielgenauere Information ermöglichen. Wir sind davon überzeugt, dass der Nutri-Score auch als EU-weites und verpflichtendes Modell eine sehr gute Figur abgeben würde. Wir setzen uns daher für einen europäischen Nutri-Score ein.

Sie sehen: Wir haben uns viel vorgenommen. Im Sinne der Gesundheit der 83 Millionen Menschen in Deutschland. Aber auch zum Schutz unserer Umwelt und des Klimas, damit wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen bewahren können.

Sie alle wissen, in was für Zeiten wir leben und wie sie uns herausfordern. Wir haben lange am Ast gesägt, auf dem wir sitzen – aber inzwischen sind wir drauf und dran die gesamte Wurzel des Baums zu zerstören, von dem wir leben. Das muss aber nicht so sein. Veränderungen zum Besseren sind möglich. Und unsere Ernährung kann dabei eine bedeutende Rolle spielen.

Einige der Punkte werden Sie gemeinsam sicher gleich bei der Podiumsdiskussion vertiefen.

Ich wünsche Ihnen noch fruchtbare Debatte und einen schönen Abend!

Erschienen am im Format Rede

Ort: Stuttgart


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