Ohne Frauen geht nichts auf den Höfen und in den Ställen.

Rede von Bundesminister Cem Özdemir auf der Abschlusskonferenz zur Landfrauenstudie "Frauen.Leben.Landwirtschaft" am 22. September 2022

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

wer in der Stadt mit Kindern wohnt, kennt vielleicht diese Sehnsucht, in den Sommerferien gemeinsam eine Idylle auf dem Land zu erleben.

  • Ein paar Tage auf einem Hof, wo die Großfamilie noch zusammenlebt und arbeitet.
  • Die Kinder der Bauernfamilie wachsen mit den Tieren auf und können den ganzen Tag in der Nähe der Eltern sein.
  • Die Großeltern vereinsamen nicht, sondern sind weiterhin in den Alltag der Familie eingebunden und haben Teil am Familienleben.
  • Und daneben wird das Dorfleben gepflegt – im Schützenverein, Kirchenchor oder auf dem Sportplatz.
  • Frauen und Männer sind gleichberechtigt, teilen sich alle Aufgaben, verdienen das gleiche Geld und auch die gleiche Wertschätzung.

Stopp!

Spätestens da merken Sie, dass an dem Bild, das ich da gerade zeichne, etwas nicht stimmen kann. Denn unser Verstand sagt uns etwas Anderes – und die Zahlen auch.

In unserem Land leben in etwa genauso viele Frauen wie Männer. Genau da endet die Gleichstellung von Männern und Frauen dann aber auch schon.

  • Frauen verdienen immer noch rund 20 Prozent weniger als Männer.
  • Frauen erhalten im Schnitt rund 35 Prozent weniger Rente als Männer.
  • Frauen erleben auch im Lebens – und Arbeitsalltag häufiger Diskriminierungen.

Von einer tatsächlichen Gleichstellung von Mann und Frau, so wie sie im Grundgesetz garantiert ist, kann noch lange keine Rede sein. Und das gilt auch – oder gerade in der Landwirtschaft.

Denn wir haben die Frauen in der Landwirtschaft gefragt: Bäuerinnen, Betriebsleiterinnen, Altenteilerinnen oder schlichtweg Frauen, die in der Branche tätig sind: Sie alle haben zu unserer Landfrauenstudie beigetragen. Wir haben nun endlich einen authentischen, verlässlichen Einblick in die Lebens- und Arbeitswirklichkeit von Frauen in der Landwirtschaft. Und das Wichtigste: Wir haben klare Handlungsempfehlungen, wie wir diese Lebens- und Arbeitswirklichkeit verbessern können.

Ich danke allen Beteiligten sehr, dass Sie die erste Studie dieser Art möglich gemacht haben.

Was mich beeindruckt hat – allerdings leider im negativen Sinne: Fast ein Viertel (21 Prozent) der befragten Frauen geben zu erkennen, dass sie von einem Burnout gefährdet sind. Das zeigt, dass viele Frauen belastet und überlastet sind, dass sie unter permanentem Stress stehen. Frauen jonglieren häufig nicht nur mit zwei oder drei Bällen, sondern oftmals mit fünf. Arbeit im Betrieb, Versorgung der Kinder, die Pflege von Familienangehörigen und häufig noch Engagement im Ehrenamt – das reibt auf und geht schließlich zu Lasten der körperlichen und seelischen Gesundheit.

In konkreten Zahlen heißt das:

  • Frauen leisten im täglichen Durchschnitt gut vier Stunden unbezahlte Sorgearbeit – die Hälfte eines gewöhnlichen Arbeitstages.
  • Gleichzeitig arbeiten Landwirtinnen im Durchschnitt 45 Stunden in der Woche bei Vollzeitbeschäftigung.
  • Und insgesamt engagieren sich 60 Prozent der Befragten ehrenamtlich.

Der Tag hat nur 24 Stunden und den größten Teil verbringen die Frauen mit Arbeit – ob bezahlt oder unbezahlt. Zudem fehlt der Freizeitausgleich für diese Belastung. Denn auch das legt die Studie offen: Im Jahr machten die befragten Bäuerinnen im Schnitt nur 10 Tage Urlaub. Das zeigt, dass sie trotz größter Belastung keine Zeit für Erholung haben.

Die Studie zeigt auch wie viele Verpflichtungen die befragten Frauen tatsächlich in den Betrieben haben.

  • Zum Beispiel sind fast dreiviertel der Befragten (72 Prozent) an den wichtigen Entscheidungen für den gesamten Betrieb beteiligt.
  • Weit über die Hälfte der befragten Frauen (62 Prozent) sind für die Finanzen, die Buchhaltung zuständig.

Wir alle wissen, dass das die Grundpfeiler eines Wirtschaftsunternehmens sind – und nichts Anderes ist ein Bauernhof heute.

  • Zugleich leiten Frauen aber nur rund 19 Prozent der Betriebe – damit sind wir Schlusslicht in Europa.
  • Und auch bei der vorgesehenen Hofnachfolge ist der Frauenanteil nicht besser (18 Prozent).

In den vergangenen 20 Jahren haben sich diese Zahlen kaum verändert. Und sie werden sich auch weiterhin nicht ändern, wenn wir die Rahmenbedingungen für Frauen nicht verbessern, so dass sie die gleichen und fairen Möglichkeiten haben.

Diese Ergebnisse zeigen, dass Frauen auf dem Land zwar systemrelevant, aber zugleich häufig wenig sichtbar sind. Denn auch das gehört zur Wahrheit: Es sind in der Regel die Frauen, die den Spagat zwischen Betrieb und Familie meistern. Und es sind diese Frauen, die in den Statistiken gar nicht auftauchen, weil sie im Hintergrund arbeiten, Sorgearbeit übernehmen, oder andere unverzichtbare Aufgaben in den Familienbetrieben. Dafür erfahren sie – wenn es gut läuft – Anerkennung in der Familie.

Was aber aus Sicht vieler befragten Frauen fehlt,

  • ist die finanzielle Unabhängigkeit,
  • eine angemessene Altersversorgung,
  • eine Absicherung im Krankheitsfall,

von geregeltem Urlaub ganz zu schweigen.

Oder nehmen wir die Versorgung während Schwangerschaft: Die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau, kurz SVLFG, hat in 2021 in rund 250 Fällen Betriebs- und Haushaltshilfen wegen Schwangerschaft und Mutterschutz gewährt. Diese Unterstützung könnte und sollte sicher mehr Frauen erreichen.

Für manche Ohren mag es hart klingen, was ich das so schildere – aber das ist die Wirklichkeit. Diese Defizite werden in der Studie offengelegt.

  • Auch das Niveau der Alterssicherung sieht ein Drittel der Frauen selbst als nicht ausreichend an. Und es liegt auch deutlich unter dem der Männer.
  • Auch wird das Anrecht auf Altenteil nur durch den Status als Ehefrau und nicht durch die Mitarbeit im Betrieb begründet. Damit verfällt dieses Anrecht auch im Falle einer Scheidung.

Generell herrscht auf dem Land noch immer ein ziemlich traditionelles Rollenbild vor – auch hier legt die Studie den Finger gut begründet in die Wunde.

Lassen Sie mich aber eines klarstellen: natürlich stehen unterschiedliche Familienmodelle gleichberechtigt nebeneinander. Wie man sich als Familie organisiert, wer in einer Partnerschaft und auch im Familienbetrieb welche Aufgaben übernimmt – das ist Privatsache und soll es auch bleiben. Aber die Realität sieht häufig so aus, dass Frauen finanziell abhängig und weniger selbstbestimmt sind. Was das beim Tod des Partners oder auch im Scheidungsfall für die Frauen bedeutet, muss ich nicht ausführen. Besonders hart: Frauen, die jahrelang auf dem Hof mitgearbeitet haben, bekommen in diesen Fällen dafür keinerlei Ausgleich.

Und in vielen Familien sind diese Themen oft noch ein Tabu, da wird nicht gern übers Geld geredet– leider mit massiven Nachteilen für die Frauen. Deshalb müssen wir dringend dafür sorgen, dass die Frauen in der Landwirtschaft besser abgesichert werden.
Das ist für mich eine ganz zentrale Botschaft aus unserer Landfrauenstudie!

Die Studie benennt klar die Hürden, denen Frauen in der Landwirtschaft begegnen und die wir abbauen müssen.

  • Da ist das Thema der Altersvorsorge und Absicherung von Frauen in der Landwirtschaft.
  • Da ist das Thema Gesundheitsvorsorge – wir müssen dafür sorgen, dass Frauen die vielen Angebote nutzen, die es bereits gibt:
  • Online-Beratungen, Betriebs- und Haushaltshilfen, Kurz-Kuren oder andere Angebote zur Gesundheitsvorsorge – wir sind in diesem Bereich schon gut aufgestellt.

Wir müssen aber noch mehr dafür tun, dass diese Angebote auch wahrgenommen werden. Dafür müssen wir den Frauen den Rücken freihalten.

Meine Damen und Herren,

der Ausspruch einer Landfrau ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: "Ich bitte auch alle Verantwortlichen in der Politik, den Praktikern wieder mehr Gehör und Glauben zu schenken."

Mit der Landfrauenstudie machen wir das. Wir geben den Landfrauen eine hörbare Stimme, denjenigen, die tagtäglich auf den Höfen ackern, die Familie versorgen und für ein lebendiges Dorfleben sorgen.

Ohne Frauen geht nichts auf den Höfen und in den Ställen. Im Gegenteil: Sie sind das Rückgrat unserer Landwirtschaft. Wir wissen jetzt, wo wir Frauen in der Landwirtschaft besser unterstützen und fördern müssen.

Wir stehen vor großen Veränderungen in der Landwirtschaft – das können die Betriebe ohne die Frauen gar nicht meistern. Oft sind sie es, die Innovationen anstoßen und mit umsetzen, oder neue Standbeine für die Betriebe erschließen, wie zum Beispiel in der Direktvermarktung. Deshalb ist es wichtig, dass sie gleichberechtigt in betriebliche Entscheidungen einbezogen werden. Und dabei geht es nicht allein um die ökonomische Zukunft der Betriebe, sondern auch um die Rolle und Stellung der Frauen. Denn wir verlieren Potential – junge, engagierte und qualifizierte Frauen – die gerne die Hofnachfolge übernehmen würden. Die gerne einen eigenen Betrieb führen wollen. Und die das auch hervorragend können.

Es kann doch nicht sein, dass man als Frau entweder einen Bauern heiraten oder im Lotto gewinnen muss, um die Leitung eines landwirtschaftlichen Betriebs zu übernehmen. Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern ist auch ein Zitat aus der Studie!

Und wir müssen natürlich die Bedingungen für die mitarbeitenden Frauen verbessern, denn auch diese Rolle ist nur attraktiv, wenn sie mit einer entsprechenden Absicherung verbunden ist. Und da machen Familienbetriebe keinen Unterschied – was Frauen in der Landwirtschaft leisten, sind keine Gefälligkeiten. Wertschätzung ist wichtig, Anerkennung auch, aber darüber darf die finanzielle und soziale Absicherung nicht vergessen werden.

Der Koalitionsvertrag spricht eine klare Sprache: "Die Gleichstellung von Frauen und Männern muss in diesem Jahrzehnt erreicht werden." Das gilt auch für die Landwirtschaft. Wir, die Politik, wissen, dass wir die Rahmenbedingungen verbessern müssen. Auch wir im Ministerium versuchen, mit gutem Beispiel voranzugehen, etwa durch die paritätische Besetzung der Abteilungsleitungen oder durch drei Staatsekretärinnen. So manche landwirtschaftliche Institution könnte sich bei diesem Thema sicher noch mehr anstrengen.

Denn, liebe Frau Bentkämper, wie Sie vielleicht am besten wissen: Es bedurfte langwieriger Diskussionen innerhalb des Berufsstandes, bis die Landfrauen einen von sechs durch den Bauernverband zu benennenden Sitzen im Verwaltungsrat der Landwirtschaftlichen Rentenbank besetzen durften.

Ich möchte aber auch mit einem Appell an Sie, an die Frauen in der Landwirtschaft schließen:

  • Verstecken Sie sich nicht - hinter den Männern.
  • Vernetzen Sie sich, tauschen Sie Ihre Erfahrungen aus.

Auch die heutige Konferenz bietet dafür eine gute Gelegenheit. Werden Sie sichtbar – oder noch sichtbarer! - mit dem, was Sie leisten - für Ihre Familien, für die Dorfgemeinschaft und für unsere Landwirtschaft.

Mein besonderer Dank geht an dieser Stelle auch an den Deutschen Landfrauenverband – für Ihre Arbeit, aber auch für Ihre Hartnäckigkeit, was die Studie betrifft. Sie haben Ihr Ohr an der "Basis", bei den Frauen, die in der Landwirtschaft arbeiten. Und Sie haben schon lange auf die bestehenden Datenlücken hingewiesen. Es ist gut und wichtig, dass wir diese Lücken endlich schließen konnten. Die Studie rückt die Frauen in der Landwirtschaft und ihre Leistungen dahin, wo sie hingehören: in die Öffentlichkeit, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Frauen.Leben.Landwirtschaft – wir haben nun einen Überblick, was wir noch anpacken müssen. In der Politik, auf den verschiedensten staatlichen Ebenen, in der Beratung, im Berufsstand, in den Gremien, aber auch in den Betrieben und in den Familien.

Meinen herzlichsten Dank an alle, die an der Studie mitgewirkt haben!

Erschienen am im Format Rede

Ort: Berlin


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