Der Hunger ist dort am größten, wo die Klimakrise heute schon voll zuschlägt.

Rede von Bundesminister Cem Özdemir auf dem Politischen Erntedank mit Verleihung der Professor Niklas-Medaille*

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

ich freue mich sehr, mit Ihnen heute gemeinsam das Erntedankfest zu feiern.

Mit diesem Fest wird traditionell dem Schöpfer – oder der Schöpferin – für die Gaben der Natur gedankt. Das christliche Erntedankfest geht dabei auf Vorläufer im Römischen Reich, im antiken Griechenland oder auch in Israel zurück. So feiert die Jüdische Gemeinde zweimal Erntedank - zu Beginn und zum Ende der Erntezeit. Der Islam kennt zwar kein klassisches Erntedank, doch der Fastenmonat Ramadan und das anschließende Ramadanfest sind mit der Grundidee des Erntedankfest durchaus vergleichbar.

Durch Fasten und Beten setzen sich gläubige Muslime in dieser Zeit mit der Schöpfung und der Gnade Gottes auseinander. Auch in anderen Regionen der Welt von China über Japan bis in viele Länder Afrikas gibt es verschiedene Anlässe, für eine gute Ernte zu danken oder darum zu bitten. Darin kommt auch zum Ausdruck, dass eine gute Ernte nicht allein in unserer Hand liegt – bei uns und überall auf der Welt. Noch vor hundert Jahren war es bei einer schlechten Ernte auch hier nicht selbstverständlich, dass die Menschen im Winter genug zu essen haben würden. Heute ist das bei uns anders, allerdings nicht überall auf der Welt.

Auch wenn wir in diesem Sommer erneut die Folgen der Klimakrise gespürt und auf unseren Feldern und in den Wäldern erlebt haben, sind unsere Regale gut gefüllt. Deshalb kommt es heutzutage nicht allen Menschen in den Sinn, ausdrücklich "Danke" zu sagen für eine gute Ernte. Dazu passt auch eine Debatte, über die ich vergangene Woche gestolpert bin und die ein Pastor aus Hamburg im NDR losgetreten hat. Ich denke, einige von Ihnen haben diese Diskussion ebenfalls mitbekommen.

Im Zusammenhang mit Erntedank forderte Pastor Michael Ellendorf eine neue Landwirtschaft. Eine Landwirtschaft, die bebaut und bewahrt ganz im Sinne der biblischen Schöpfungsgeschichte. Zugleich erklärt er aber, es gäbe aus seiner Sicht keinen Grund mehr, für Ernten zu danken. Denn eine industrielle Landwirtschaft komme längst ohne Gott aus. Er fragt: "Wem soll ich da danken? Dem Kunstdüngerkonzern?" Er wird noch deutlicher, wenn er schreibt: "Gott wird sich dagegen verwahren, dass wir seine Schöpfung mit Füßen treten – und uns dann bei ihm bedanken."

Das sind provokante Aussagen und vielen sind sie auch bitter aufgestoßen, soweit, dass der Sender NDR-Kirche meinte, sich distanzieren zu müssen. Tatsächlich sind viele Entwicklungen in der Landwirtschaft zu hinterfragen – und es sind auch Landwirtinnen und Landwirte, die das selbst tun. Denn wir müssen unsere Tiere – unsere Mitgeschöpfe –  besser halten. Denn wir müssen Böden, Klima und Biodiversität besser schützen, um unsere Ernährung zu sichern. Aber ist es wirklich so schwarz und weiß, wie es Pastor Ellendorf formuliert? Oder geht es nicht vielmehr darum, Widersprüche und vermeintliche Zielkonflikte aufzulösen? Geht es nicht darum, Brücken zu bauen und gute Kompromisse zu schmieden, die der vorhandenen Veränderungsbereitschaft der Menschen auch gerecht werden?

Denn diese Veränderungsbereitschaft sehe ich bei vielen Bäuerinnen und Bäuerinnen. Ich bin in den vergangenen Monaten auf Höfen gewesen, habe mit Jung und alt, mit öko und konventionell gesprochen. Ich habe erlebt, dass Landwirtschaft Leidenschaft ist – und dass dazu natürlich auch Innovationen und moderne Technik gehören, um den Arbeitsalltag einfacher und auch effizienter zu gestalten. Der Publizist Wolf Lotter hat Innovation einmal so definiert: Sie ist "der berechtigte Anlass für die Hoffnung, dass es besser wird." Wir müssen eben nur klären, was dieses "besser" konkret bedeutet – und dem Fortschritt dann eine entsprechende Richtung geben.

Gestern Abend beim Ceres-Award habe ich viele motivierte Landwirtinnen und Landwirte getroffen, die genau das tun. Sie verbinden Landwirtschaft mit Umwelt-, Natur- und Klimaschutz – und geben dem Fortschritt eine gute Richtung. Und nicht zuletzt sehen wir hier und heute Abend ja auch mit den Gewinnerinnen und Gewinnern der Professor Niklas-Medaille, mit Frau Rapior, Frau Muus und Herrn Professor Strohschneider als zentrale Mitglieder der Zukunftskommission Landwirtschaft, dass wir auf breiter Basis bereits auf dem Weg zu einer neuen Landwirtschaft sind.

Ich möchte an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass Frau Rapior und Frau Muus in diesem Jahr auch mit dem Ehrenpreis des Deutschen Umweltpreises ausgezeichnet werden. Beide haben lange schwelende Konflikte aufgelöst und Brücken gebaut zwischen Umwelt und Landwirtschaft. Sie tun das, damit unsere Landwirtschaft zukunftsfähig und zukunftsfest wird – für eine Landwirtschaft, der wir auch künftig guten Gewissens danken können und müssen. Das tun wir auch heute: Wir sagen zusammen Danke. Darum habe ich sie alle hier und heute eingeladen. Aber auch, damit wir über manches gemeinsam nachdenken, das selbstverständlich oder vermeintlich selbstverständlich ist. Denn "das Selbstverständliche wird am wenigsten gedacht" – so hat es der Soziologe Max Weber auf den Punkt gebracht.

Ich glaube, dass dieses Nachdenken gerade in der heutigen Zeit noch viel wichtiger ist als in der Vergangenheit. Denn sicher geglaubte Selbstverständlichkeiten brechen weg. Was gestern undenkbar schien, ist heute unsere neue Realität. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist dafür das dramatischste Beispiel. In Europa herrscht kein Frieden mehr – sondern Krieg. Wir sehen Bilder von Gewalt, Terror und Zerstörung, die wir unseren Kindern niemals zuteilwerden lassen wollten. Wir bekommen deutlich vor Augen geführt, was es heißt, von russischem Gas abhängig zu sein oder wie leicht Lieferketten abreißen.

Wir sehen aber auch mutige Ukrainerinnen und Ukrainer, die ihr Land verteidigen, ihre Werte und ihre Familien. Die der Demokratie und dem Kampf für Freiheit ein Gesicht, eine Geschichte geben.  Dafür können und müssen wir auch danken und sie nach bestem Wissen unterstützen. Dass der diesjährige Friedensnobelpreis an Vorkämpferinnen und Vorkämpfer für Menschenrechte aus der Ukraine, Belarus und Russland geht, die sich selbst Gefahren aussetzen, um für Frieden und Freiheit in Europa einsetzen, ist daher genau richtig. Dieser mutige Einsatz ist alles andere als selbstverständlich.

Der Krieg in der Ukraine hat direkte und indirekte Auswirkungen auf die weltweite Landwirtschaft. Dort liegen Millionen Tonnen Getreide und laufen Gefahr zu verrotten, während im Nahen Osten und in Ostafrika Hunger droht oder bereits herrscht. Auch wenn es mittlerweile gelungen ist, erste sichere Korridore zum Abtransport von Getreide zu schaffen, müssen wir weiter dafür arbeiten, dass Nahrungsmittel dort ankommen, wo sie in der Welt benötigt werden.

Und zugleich müssen wir dem Schutz unseres Klimas, der Umwelt- und der Biodiversität gerecht werden. Wir können diesen Schutz einfach nicht mehr auf die lange Bank schieben, wir haben schon zu viel Zeit verloren. Die Klimakrise macht nicht vor Grenzen halt! Dürre, Überschwemmungen, Stürme vernichten Ernten auf allen Kontinenten. Menschen hungern, und zwar nicht erst seit gestern! Man kann es nicht oft und laut genug betonen: Der Hunger ist dort am größten, wo die Klimakrise heute schon voll zuschlägt. Deshalb muss auch die Landwirtschaft der Herausforderung gerecht werden, unser Klima zu schützen.

  • Sie muss dazu beitragen durch die Minderung der Emissionen von Treibhausgasen sowie durch die Speicherung von Kohlenstoff in den landwirtschaftlich genutzten Böden.
  • Sie muss einen spürbaren Beitrag zum Umwelt-, Klima- und Tierschutz leisten, in dem weniger Tieren besser gehalten werden.  

Wir können nicht einfach so weitermachen bei der Verwertung von Getreide als Tierfutter sowie für die Kraftstoffproduktion. Wir müssen weniger wegschmeißen, die Lebensmittelverschwendung weiter senken. Wir benötigen eine nachhaltigere Ernährungsweise, indem wir mehr pflanzenbasierte, saisonal-regionale Angebote nutzen und weniger Fleisch essen.

Zu Erntedank wird uns bewusst, dass Landwirtschaft notwendig und unverzichtbar ist. Aber wer daraus ableitet, dass das selbstverständlich ist, dass sich immer jemand finden wird, der, sät, erntet und sich um Tiere kümmert – der könnte sich gewaltig irren. Denn auch unsere Bäuerinnen und Bauern stehen unter Druck, das Höfesterben macht mir große Sorgen.

Zu einer guten Zukunft gehört, dass der Gesellschaft eine nachhaltige Landwirtschaft und ihre Erzeugnisse etwas Wert sein müssen! Wenn wir eine Landwirtschaft wollen, die Boden und Tier nutzt und schützt, dann muss uns das als Gesellschaft auch finanziell etwas Wert sein. Am Ende muss ein Hof auch ein gutes Einkommen ermöglichen. In diesem Zusammenhang sind die steigenden Energiekosten für die gesamte Ernährungsbranche momentan eine immense Herausforderung. Hier darf es nicht zu Strukturbrüchen kommen, denn unsere Ernten müssen auch verarbeitet werden.

  • Wir brauchen die hoch qualitativen Produkte aus Handwerk und Mittelstand.
  • Wir brauchen unsere Bäckereien, Metzgereien und Brauereien. Sie alle schaffen Wertschöpfung besonders in ländlichen Räumen.

Das soll und muss auch so bleiben. Auch dazu dienen die drei Entlastungspakete der Bundesregierung und die Gas- und Strompreisbremse, an der mit Hochdruck gearbeitet wird. Für mich ist selbstverständlich, das ich als grüner Minister der grünen Branche eine gute Perspektive geben will. Das gilt auch für die Tierhaltung, die nur dann zukunftsfest ist, wenn sie wesentlich mehr als heute zum Schutz von Umwelt, Natur und Klima beiträgt. Wir müssen es schaffen, dem Wohl der Tiere in den Ställen und auf der Weide besser gerecht zu werden.

Auch dem erklärten Wunsch der Verbraucherinnen und Verbrauchern nach mehr Transparenz beim Einkauf müssen wir nachkommen. Sie wollen wissen, wie das Tier gelebt hat, dessen Fleisch auf ihre Teller kommt. Und unsere Bäuerinnen und Bauern brauchen Planungssicherheit und unsere Unterstützung, um in ihre Höfe zu investieren. Dazu haben wir gestern als Kabinett eine wichtige Entscheidung für eine nachhaltigere Landwirtschaft in Deutschland gefasst. Mit dem Gesetz zur Tierhaltungskennzeichnung geben wir den notwendigen Startschuss für den Umbau der landwirtschaftlichen Tierhaltung.

Zudem haben wir die Anschubfinanzierung für den Umbau der Tierhaltung in Höhe von einer Milliarde Euro gesichert. Sie kann nicht nur für Investitionen in den Umbau der Ställe verwendet werden, sondern auch, um die tierhaltenden Betriebe bei laufenden Mehrausgaben zu unterstützen, wenn weniger Tiere besser gehalten werden. Diese Unterstützung der Landwirtinnen und Landwirte ist im gesellschaftlichen Interesse. Wir brauchen ihre Veränderungsbereitschaft, um auch künftig unsere Ernährung zu sichern und zugleich unsere Klimaschutzziele zu erreichen. Ganz im Sinne der Zukunftskommission Landwirtschaft und der Borchert Kommission. Veränderungen sind sowohl mit Chancen als auch mit Zumutungen verbunden. Deshalb kommt es auch auf die Geschwindigkeit des Wandels an. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Schritt für Schritt vorankommen müssen, damit es auch wirklich Bestand hat. Das bedeutet aber zugleich auch, dass wir keine Zeit mehr verlieren dürfen. Gegenwart und Zukunft müssen jetzt besser in Einklang gebracht werden.

Wir müssen heute schützen, was wir morgen für unser Leben und Überleben nutzen. Denn auch das sollte für uns alle wahrhaftig selbstverständlich sein.

Wir möchten auch in Zukunft gemeinsam für gute Ernten danken können. Deshalb muss beides – das Nutzen und das Schützen –zusammengedacht und zusammengebracht werden. Dazu braucht es Solidarität und Kompromissbereitschaft von allen. Wir wollen nicht in zehn Jahren zurückblicken und dann feststellen: Hätten wir 2022 den richtigen Weg einschlagen, dann wären wir heute besser dran.

Dies ist wahrscheinlich ein Gedanke, den auch unser heutiger Preisträger für sein Lebenswerk, Dr. Georg-Sebastian Sperber, in den vergangenen Jahren oft hatte. Denn er hat bereits vor über 30 Jahren vor den Folgen des Waldsterbens und der Klimakrise gewarnt. Hätte man ihm damals besser zugehört, würden wir jetzt nicht mit den Konsequenzen des Nichtstuns leben müssen.

Wir haben wirklich kein Erkenntnisproblem mehr – es geht um die Umsetzung - mit Pragmatismus und der Bereitschaft, über die besten Lösungen und Wege zu streiten. Für Veränderungen, die schaffen, was uns wichtig ist: eine Landwirtschaft, die uns ernährt, die unsere Lebensgrundlagen schützt und Höfe mit Zukunft, deren Arbeit nicht nur wertgeschätzt wird, sondern sich auch wirklich lohnt.  Das sollte unsere neue Selbstverständlichkeit in der Landwirtschaft sein.

Vielen Dank! 

*Bundesminister Özdemir wurde bei der Preisverleihung kurzfristig von Staatssekretärin Silvia Bender vertreten.

Erschienen am im Format Rede

Ort: Berlin


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