"Wir haben verdammt viel zu verlieren, wenn wir einfach so weitermachen wie bisher"

Rede von Bundesminister Cem Özdemir beim DBV-Neujahrsempfang, 20. Januar 2023

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

leider konnte ich im vergangenen Jahr ja nicht meinen Einstand auf der Grünen Woche geben. Da hat uns Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber jetzt bin ich schon mittendrin. Ich hätte mich teilen müssen, um all die interessanten Einladungen zuzusagen. Ich würde sagen - ich hoffe die Agrarpresse zitiert mich dann nicht falsch – da wäre es fast praktisch, wir wären mit der Zellforschung und Gentechnik schon einen Schritt weiter. Dann hätte ich eine etwas jüngere und sportlichere Version von mir klonen und so an allen erbetenen Terminen teilnehmen können. Bevor ich jetzt aber bei manchen Parteifreunden Schnappatmung auslöse oder die Union mich als Ankündigungsminister kritisiert – lassen Sie mich über die aktuellen agrarpolitischen Herausforderungen sprechen.

Ich habe im vergangenen Jahr ja viele Betriebe überall in Deutschland besucht. Bei allen Hof-Terminen – ob groß oder klein, ob bio oder konventionell – habe ich gesehen, was Landwirtschaft ausmacht. Und dazu gehört auch die Bereitschaft zur Veränderung! Warum? Weil Märkte sich verändern und unternehmerisch denkende Landwirtinnen und Landwirte Lösungen suchen, um am Markt erfolgreich zu sein. Und die über allem stehende Herausforderung ist es dabei, Ernährungssicherheit und Klima- und Naturschutz permanent zusammendenken und zusammenführen. Da kann ich niemand aus der Verantwortung lassen! Und da sage ich ganz offen: Manche machen es sich da zu leicht! Das habe ich auch gestern bei den Eröffnungsreden wahrgenommen.

Es ist ja schön und gut, wenn ich jetzt ständig darüber belehrt werde, wie wichtig Ernährungssicherheit ist – als ob ein Agrarminister und sein Haus das nicht wüssten! Als nächstes erklären wir dann dem Bundestrainer, dass der Ball rund ist und ins Eckige muss… Aber meine Verantwortung reicht eben weiter, als an die nächste Ernte zu denken – ich muss auch an die Ernte in zehn, zwanzig und fünfzig Jahren denken! Wir sehen doch jetzt die Krise auf unseren Feldern. Bei Herrn Rukwied auf dem Betrieb konnte ich mehr als meine Hand in den trockenen und aufgerissenen Boden stecken. Das war früher nicht so!

Die Krise ist da und wir müssen gemeinsam unsere Sensorik schärfen, wir dürfen sie nicht länger ausblenden. Wir müssen daran arbeiten, diese Krise abzuwenden. Wir müssen Lösungen finden, mit der Situation umzugehen und dürfen sie nicht weiter verschärfen. Und ich habe nicht den Eindruck, dass in der Debatte alle im gleichen Film sind! Natürlich verstehe ich, dass alle Landwirte sich auch als Naturschützer verstehen! Aber dennoch müssen wir doch zur Kenntnis nehmen, dass Landwirtschaft und gerade auch Tierhaltung zur Erderhitzung und Krise der Artenvielfalt beiträgt. Am Ende des Tages brauchen wir gute Kompromisse – aber Kompromisse, die sich immer daran messen lassen müssen, allen Krisen und Herausforderungen kurz-, mittel- UND langfristig gerecht zu werden!

Im vergangenen Jahr habe ich das einmalige Aussetzen der GLÖZ-Regelungen zur Fruchtfolge und zu Artenvielfaltsflächen zugelassen. Es war eine direkte Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Angriffs Putins, um die Märkte zu beruhigen. Das kann aber keine Dauerlösung sein – und das wissen Sie mindestens so gut wie ich. Und wenn ich dann höre, dass Stilllegungen von Flächen Gedöns sind und man damit keine Ernährung sichern könne – da frage ich mich schon, ob alle verstanden haben, wie dramatisch die Krise unserer Artenvielfalt ist. Artenvielfalt ein Produktionsfaktor, von dem Sie und wir alle in dramatischem Maße abhängen. Die Vielfalt sorgt für Sicherheit und für Stabilität – und dafür braucht es geschützte Bereiche! Wo und wie, darüber müssen wir reden.

Meine Politik heißt: Wir formulieren Ziele, über den Weg müssen wir dann diskutieren, die besten Lösungen finden. Wir haben verdammt viel zu verlieren, wenn wir einfach so weitermachen wie bisher. Und manche wollen einfach so weitermachen wie bisher, weil sie damit bislang gut gefahren sind. Da steht aber eine Wand, gegen die wir demnächst fahren werden. Und auf dieser Wand steht: Klimakrise, Artenvielfaltskrise, Hunger – und Hunger dort, wo die Klimakrise heute schon vollzuschlägt Deshalb: Wir müssen bereit sein zu verändern, damit wir das Gute bewahren können – und da ist mir jeder gute Vorschlag willkommen.

Das gilt auch für den anstehenden Umbau der Tierhaltung, den wir mit einem Gesamtkonzept angehen. Ich will, dass in Deutschland auch zukünftig Tierhaltung wirtschaftlich erfolgreich möglich ist. Ich sage deutlich, auch mein Gemüse braucht Tiere. Warum? Für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft brauchen wir auch Tierhaltung. Darum haben wir ein Bundesprogramm erarbeitet, das die Veränderungsbereitschaft unserer Landwirtinnen und Landwirte wirkungsvoll unterstützen wird. Damit Investitionen auf den Höfen ankommen. Mit diesem Programm unterstützen wir nicht nur Anfangsinvestitionen, sondern auch bei den laufenden Kosten für mehr Tierwohl. Wir wollen durch Zuwendungsbescheide für bis zu 10 Jahre eine garantierte Verlässlichkeit schaffen. Das ist völlig neu! Ich verweigere mich hier auch nicht den Debatten, ob wir die Förderbedingungen anpassen müssen. Da bin ich gesprächsbereit, ich will hier jetzt vorankommen, ich habe mich ganz konkret auf den Weg gemacht. Das hätte doch auch gut und gerne von der Vorgängerregierung kommen können – und zwar unter wirtschaftlich ganz anderen Bedingungen, angefangen bei der niedrigen Inflation, über gute Steuereinnahmen und geringen Lebensmittelpreisen.

Ich kämpfe jetzt für Planungssicherheit weit über die jetzige Legislaturperiode hinaus. Ich pack es jetzt an! Ich werde mich nicht von denen aufhalten lassen, die es beim letzten Mal verhindert haben. Das sind die, die nicht wollen, dass sich etwas verändert, dass alles so bleibt, wie es ist, weil sie nämlich vom bestehenden System profitieren! Mit der Konsequenz, dass wenige gewinnen und viele verlieren. Diese Politik wird ein Ende haben. Und ich höre ihre Kritik – aber ich regiere nicht allein. Auch ich muss Kompromisse machen. Da denken manche, der Markt wird’s richten – ich denke das ausdrücklich nicht! Wenn der Staat Hürden erhöht, muss er auch helfen, diese zu überwinden. 

Engagiert und pragmatisch werde ich auch bei der Reduzierung des Pestizideinsatzes sein. Ja, Verwendung und Risiko müssen deutlich gesenkt werden, im Sinne von Farm-to-Fork bis 2030 insgesamt um die Hälfte. Wir haben aber auch Sonderkulturen wie den Obstbau und den Weinbau, die für unsere Kulturlandschaften und deren Artenvielfalt prägend sind. Für die müssen wir tragfähige Lösungen finden, sonst gibt es keinen Wein mehr aus der Pfalz und kein Obst vom Bodensee. Wir haben doch gute Blaupausen, wie Landwirtschaft und Naturschutz zusammen gedacht werden können, aus Baden-Württemberg und Niedersachsen, daran müssen wir uns orientieren. So wird es hier am Ende des Tages darum gehen, gute Kompromisse zu finden, die umsetzbar sind und uns wirklich vorwärtsbringen – das ist mir völlig klar! Damit dann am Ende Entscheidungen getroffen werden können, die belastbar und zielführend sind. Aber auch, das gehört zur Ehrlichkeit der Debatte dazu, werden wir es sicher nicht immer allen recht machen können. Das gilt auch beim Schutz des Klimas durch Wiedervernässung von heute intensiv genutzten Mooren oder bei vielen Fragen zum Einsatz von Düngemitteln. Auch bei der Debatte um die zukünftige Gemeinsame Agrarpolitik oder der Nutzung von Biokraftstoffen auf Basis von Getreide gibt es Reibungspunkte. Wichtig ist mir bei all den Debatten, den bevorstehenden Weichenstellungen, dass unsere Landwirtschaft in Deutschland noch nachhaltiger arbeitet und damit erfolgreich bleibt. Denn Nachhaltigkeit wird der größte Treiber der Veränderungen von Märkten sein. Das gilt für alle Märkte – und das gilt auch für die Märkte, die helfen, unser aller Ernährung zu sichern! 

Meine Damen, meine Herren,

wir wollen doch nicht in zehn Jahren zurückblicken und dann feststellen: Hätten wir damals einen anderen, den richtigen Weg einschlagen, dann wären wir heute besser dran. Das muss uns insgesamt eine Lehre sein aus den globalen Verwerfungen, die der russische Angriffskrieg ausgelöst hat: Ernährungssicherheit, Klimaanpassung, Klimaschutz und Höfe mit Zukunft können sich gegenseitig stärken oder sogar gegenseitig bedingen. Und genau das müssen wir doch hinbekommen – mit Pragmatismus und der Bereitschaft, über die besten Lösungen und Wege zu streiten. Damit wir am Ende zu guten Entscheidungen kommen, die unsere Landwirtschaft zukunftsfest aufstellen.

Vielen Dank!

Erschienen am im Format Rede

Ort: Berlin


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