Kein Kind, egal welcher Herkunft, wird als Antisemit geboren. Wir, die Gesellschaft, machen es dazu.

Rede des Bundesministers für Ernährung und Landwirtschaft, Cem Özdemir in der Debatte zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland vor dem Deutschen Bundestag am 9. November 2023 in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede

Ein ehrlich gemeinter Kampf gegen Antisemitismus verträgt parteipolitische Rituale nicht. Er kann nur dann erfolgreich sein, wenn wir parteiübergreifend zusammenstehen. Daraus folgt, dass der selektive Blick auf die Realität des Antisemitismus aufhören muss.

Wenn Antisemitismus von links kommt, heißt es, das sei keiner, sondern sogenannter antikolonialer Befreiungskampf. Es ist verstörend, dass manche Linke angesichts des Terrors der Hamas daran scheitern, einfach Menschlichkeit zu zeigen – oder überhaupt anzuerkennen, dass es sich um Terrorismus handelt.

Wenn Antisemitismus von Muslimen ausgeht, dann heißt es ritualmäßig, das habe nichts mit dem Islam zu tun. Dabei zeigen Studien, dass Antisemitismus unter Muslimen leider alles andere als ein Randphänomen ist.

Von konservativer Seite wird gelegentlich ausschließlich über den eingewanderten Antisemitismus gesprochen, als gäbe es im rechten Spektrum keinen – was offensichtlich absurd ist.

Als Kind habe ich neben der deutschen Schule an manchen Nachmittagen auch eine türkische Schule besucht und habe erlebt, wie unterschiedlich man mit Vergangenheit umgehen kann. Nachmittags habe ich erfahren, wie glorreich die Vergangenheit der türkischen Vorfahren angeblich war; vormittags habe ich gelernt, dass die deutschen Vorfahren während des Nationalsozialismus die schlimmsten Verbrechen begangen haben. Nachmittags gab es vom Lehrer eine Kopfnuss, wenn ich kritische Fragen gestellt habe. Dagegen hat mich der offene, auch schmerzhafte Umgang mit der eigenen Geschichte zutiefst beeindruckt und mich als Migrant auch in meinem Deutschsein maßgeblich geprägt. Kein Kind, egal welcher Herkunft, wird als Antisemit geboren. Wir, die Gesellschaft, machen es dazu.

Deshalb müssen wir uns – auch hier parteiübergreifend – immer wieder selbstkritisch fragen, ob wir die konsequente Erziehung zu Demokratie in unseren Bildungseinrichtungen ernst genug nehmen. Denn auch hier entscheidet sich, ob wir unserer Verantwortung für den Schutz von Jüdinnen und Juden gerecht werden. Der Ruf nach mehr Bildung kommt uns leicht von den Lippen. Wer ist schon gegen Bildung? Aber dieser Appell darf eben nicht zu einem folgenlosen und wohlfeilen Ritual verkommen – hier geht es um das Wertefundament, auf dem unser Land steht, hier geht es um die Frage, wer wir sein wollen.

Im Idealfall geschieht die Vermittlung der Werte mit der Familie, im Ernstfall – und den haben wir jetzt gerade – gegen ein Milieu, in dem Antisemitismus und Judenhass quasi zur Normalität gehören. Das bedeutet übrigens auch, dass künftig nicht mehr das jüdische Kind die Schule wechseln muss, sondern diejenigen, die es antisemitisch drangsalieren und schikanieren. Wenn jüdische Kinder aus Angst nicht zur Schule gehen, dann ist das nicht einfach nur die Angelegenheit ihrer Eltern – dann ist das unsere Angelegenheit. Ich bin es auch leid, dass stets jüdische Organisationen zu Protesten gegen Antisemitismus aufrufen müssen. Es ist vornehmste republikanische Pflicht eines jeden Bürgers dieses Landes, von uns allen, uns dem antisemitischen Hass entgegenzustellen.

Zu den gemeinsamen Konsequenzen sollte auch eine Überprüfung des Verhältnisses zu den muslimischen Dachverbänden gehören. Erst nach Aufforderung Antisemitismus auf Deutsch zu verurteilen, um danach auf Türkisch und Arabisch das Gegenteil zu sagen, dürfen wir künftig nirgendwo mehr durchgehen lassen. Auch das wäre praktizierte deutsche Staatsräson.

Es ist manchmal mühsam, hierzulande seinen Weg als Mensch mit Migrationsgeschichte zu gehen. Aber mein Beispiel und das Beispiel von Kollegen und Kolleginnen hier zeigt doch: Dieses Land ist Heimat von Menschen mit unterschiedlichen Muttersprachen, Religionen, Weltanschauungen. Wer sich anstrengt, manchmal Widerstände überwindet, kann sich hier einbringen. Deshalb ist mein Appell an die Jugendlichen, die mit den Menschen in Gaza leiden und dafür kämpfen, dass vielleicht auch die Palästinenser eines Tages ein eigenes Land haben: Lasst euch nicht vor den Karren von Hamas, Islamic Jihad, Hisbollah, Hisb ut-Tahrir und anderen Terrororganisationen spannen! Glaubt nicht denen, die euch sagen, dass es die Juden sind, die Schuld tragen am Leid der Menschen in Gaza! Es ist die Hamas, die die Menschen dort aus Feigheit in Geiselhaft nimmt und ihr Leid geradezu braucht, um euch als nützliche Idioten zu missbrauchen. Es gibt Frieden und Freiheit für die Palästinenser nur mit dem Staat Israel, niemals gegen ihn.

Wer über die Nakba, die Vertreibung der Araber, spricht, darf nicht über die Vertreibung von Juden aus arabischen und muslimischen Ländern schweigen. Die israelische Regierung darf man selbstverständlich kritisieren. Was dagegen nicht geht, ist, Sympathien für die Terroristen der Hamas zu zeigen, sich über tote Juden zu freuen, die Geiseln zu verhöhnen, gegenüber unseren Polizisten, Lehrern, Vertretern unseres Landes Respektlosigkeit zu zeigen. Wer damit ein Problem hat, muss künftig ein Problem haben – so muss es künftig laufen.

Herzlichen Dank.

Erschienen am im Format Rede

Ort: Berlin


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