Lassen Sie uns alle beim Schutz der genetischen Ressourcen weiter eng zusammenarbeiten.

Rede des Bundesministers für Ernährung und Landwirtschaft Cem Özdemir auf dem Global Crop Diversity Summit am 14. November 2023 in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

vielen Dank für die Einladung!

Ich will gleich mit einer Frage starten: Wissen Sie was Kavilca ist? Ich vermute, dass einige von Ihnen die Antwort wissen. Ich muss zugeben, dass ich es bis vor Kurzem nicht wusste. Und das als "anatolischer Schwabe", der zudem die Verbindung zwischen diesem Weizen und einer schwäbischen Urpflanze lange nicht kannte. Kavilca ist eine Weizensorte, die über 400 Generationen, über 10.000 Jahre das Bild ostanatolischer Landschaften prägte. Diese Weizensorte färbte früher ganze Landstriche honiggelb, war eine der ersten kultivierten Pflanzen der Menschheit. Sie konnte unter rauen, feuchten Bedingungen in großen Höhen wachsen. Sie hat die Menschen satt gemacht. Heute ist sie eine der seltensten Pflanzen in ihrer ehemaligen Heimat. Sie steht nur noch auf wenigen Feldern, wird von einigen Bauern gepflanzt. Sie ist eine vom Aussterben bedrohte Art.

Das Gleiche galt lange Zeit für die schwäbische Alb-Linse aus meiner Heimat. Vor gut 60 Jahren hörte damals der letzte Linsenbauer der Schwäbischen Alb auf, diese Sorte anzubauen. Der Linsenanbau ging mitsamt den alten, einheimischen Sorten verloren. Damit verschwand eine Nahrungspflanze, die seit über zwei Jahrtausenden auf der Alb kultiviert wurde. Dabei sind Alblinsen reich an Eiweiß und Mineralstoffen. Gerade in ärmeren Regionen, wie es die Schwäbische Alb lange Zeit war, konnten sich die Menschen tierisches Eiweiß in Form von Fleisch kaum leisten. Sie glichen dies durch die Proteine der Linsen aus. Doch dann waren die Alblinsen plötzlich von der Schwäbischen Alb verschwunden. Andere, einfacher zu handhabende Pflanzen wurden angebaut. Diese beiden Pflanzen verbindet also nicht nur ein gemeinsames Schicksal und mein persönlicher Hintergrund. Sie sind auch Teil unseres heutigen Themas.

Ein Thema, das sich mit zwei spannenden Fragen umreißen lässt, die der britische Autor Dan Saladino in seinem Buch "Eating to extinction" zurecht stellt:

  • "Wie kann es sein, dass wir Sorten einer Pflanzenart haben, die kurz vor dem Aussterben stehen und gleichzeitig andere Sorten gefühlt überall auf der Welt anbauen?"
  • "Wieso haben wir so vieles der Uniformität (uniformity) geopfert, statt auch die besonderen Eigenschaften von vielen Pflanzen zu schützen, die einen wirklichen Beitrag beim Kampf gegen die Klimakrisen, Pflanzenkrankheiten und Resistenzen liefern könnten". 

Die Antworten auf die gerade genannten Fragen sind natürlich – wie immer – nicht eindimensional. Denn die Entwicklung neuer produktiver Sorten, gerade in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg, war notwendig, um die Menschen rund um den Globus satt zu machen. Auch die Ursprünge der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik lagen ja darin begründet, den Menschen wieder ausreichend Lebensmittel zur Verfügung zu stellen. So wurden mit der Zeit tausende traditioneller Sorten durch eine kleine Anzahl neuer, produktiverer Sorten ersetzt. Es entwickelte sich bis in die heutige Zeit eine hochproduktive Landwirtschaft, die immer mehr Menschen satt gemacht hat.

Auch wenn sie immer abhängiger wurde von externen Faktoren wie Pestiziden und Düngern sowie von hohem Wasserverbrauch. Dadurch hat sich die Getreideproduktion im vergangenen Jahrhundert verdreifacht. Diese Produktionssteigerung verbessert die Ernährungssicherung der steigenden menschlichen Bevölkerung, die sich zwischen 1970 und 2020 mehr als verdoppelt hat. Was allerdings neben dem Nutzen lange übersehen wurde, war die Gefahr, die in der Uniformität einheitlicherer Nutzpflanzen besteht. Die negativen Auswirkungen durch große Schläge und die damit verbundenen Risiken wie Krankheiten, Biodiversitäts- und Artenverlust wurden ebenfalls lange nicht beachtet. Ein globales Nahrungsmittelsystem, das also nur von einer begrenzten Auswahl an Pflanzen abhängt, ist einem größeren Risiko ausgesetzt, Krankheiten, Schädlingen und Klimaextremen zu erliegen.

Dass wir hier und heute zusammenkommen, zeigt mir aber, dass wir angefangen haben, unsere Fehler zu erkennen. Wir sprechen zunehmend lauter und intensiver, über den Verlust der Biodiversität und seine Folgen. Und wir verstehen immer besser, wie eng die Klimakrise und der Verlust der biologischen Vielfalt miteinander verwoben sind und wie sie sich wechselseitig verstärken. Wie die Biodiversität sind die Nutzpflanzensorten als genetische Ressourcen die Grundlage unseres Seins. Sie sind die Voraussetzung für Züchtung und Innovationen und damit einer nachhaltigen Landwirtschaft. Sie sind Grundlage für gute Ernten auch noch in 10, 20 oder 50 Jahren. Und damit das Fundament einer vielfältigen gesunden Ernährung.

Wir sehen deshalb als Bundesregierung den Erhalt und die Förderung der genetischen Ressourcen sowie ihre nachhaltige Nutzung als eine unserer Kernaufgaben an. Eine hohe Vielfalt macht die Systeme nicht nur widerstandsfähiger. Vielfalt ist auch mit einem größeren Genpool verbunden, in dem sich möglicherweise Eigenschaften verbergen, die wir später einmal gebrauchen könnten. Für uns heißt das: Wir müssen möglichst viele Sorten aktiv in der Nutzung erhalten. Und Sorten, die nicht aktiv genutzt werden, auf andere Weise sichern − beispielsweise in Genbanken.

Der Saatguttresor in Spitzbergen ist deshalb ein unschätzbarer Schatz, den wir gemeinsam geschaffen und vor 15 Jahren in Betrieb genommen haben. Frau Staatssekretärin Sandkjaer, vielen Dank, dass Norwegen der Weltgemeinschaft diese Möglichkeit gegeben hat. Der Tresor dient dem Erhalt und dem Schutz einer Vielfalt von Saatgut für Lebensmittel, die zur Ernährung wichtig sind. Diese Vielfalt ist notwendig, um an den Klimawandel angepasste neue Sorten zu züchten oder auf alte Sorten zurückzugreifen. Und es ist gut zu wissen, dass wir in Notfällen auf diese Vielfalt zurückgreifen können. Diese Vielfalt in Genbanken zu erhalten, wird daher auch in der deutschen "Genetische Ressourcen Strategie" ein wichtiger Eckpfeiler sein. Mit dieser Strategie, die wir 2024 vorstellen werden, wollen wir die Bedeutung der genetischen Ressourcen in den politischen Fokus bringen. Die Strategie soll die genetischen Ressourcen als Teil des Biodiversitätsschutzes und als Grundlage unserer Ernährungssicherung herausstellen und auf ihre Potentiale bei der Anpassung an die Klimakrise aufmerksam machen.

Konkret geht es darum, was in Deutschland noch getan werden muss, um die Vielfalt genetischer Ressourcen in der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft und unserer Ernährung zukunftsfest zu erhalten und nachhaltig zu nutzen. Ein weiterer Baustein ist da ganz klar die internationale Zusammenarbeit. Sei es im Rahmen des Internationalen Saatgutvertrags oder in der Kommission für genetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft.

Zum Schluss möchte ich nochmal zum ostanatolischen Weizen Kavilca und zur Alblinse zurückkommen. In den vergangenen Jahren ist es zum Glück gelungen, beide Pflanzen wieder auf mehr Flächen anzubauen, dem Aussterben dieser Art zu begegnen. Jetzt fängt der "alte" Weizen wieder an, eine Einnahme- und damit Lebensquelle für anatolische Familien auf dem Land zu sein. Gleichzeitig leistet er einen wichtigen Beitrag, die Biodiversität in seiner Ursprungsregion zu stärken. Die Alblinse wird seit 2001 wieder angebaut, hauptsächlich nach ökologischen Verfahren. Sie trägt auf der Schwäbischen Alb wieder zur biologischen Vielfalt und regionalen Wertschöpfung bei.

Lassen Sie uns diese zwei Beispiele als Motivation dafür nehmen, dass es einen Unterschied macht, ob wir handeln oder eine Entwicklung einfach hinnehmen. Es ist doch ein gutes Signal, dass wir Veränderungen durch unser Verhalten gestalten können. Lassen Sie uns also alle beim Schutz der genetischen Ressourcen weiter eng zusammenarbeiten.

Dann werden wir das schützen, was uns in Zukunft großen Nutzen bringen kann.

Vielen Dank!

Erschienen am im Format Rede

Ort: Berlin


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