Alle Kinder sollen die Chance haben, gesund groß zu werden – möglichst unabhängig von Herkunft und Elternhaus!

Rede des Bundesministers für Ernährung und Landwirtschaft, Cem Özdemir, bei der Herbsttagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) am 18. November 2023 in Leipzig

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

wie passend, dass Sie sich in Leipzig treffen, das ja bekannt ist für ein traditionelles Gemüsegericht – das "Leipziger Allerlei". Es geht, habe ich mir sagen lassen, der Legende nach auf politisches Kalkül zurück. Um Bettler und Steuereintreiber fernzuhalten, soll ein Stadtschreiber Anfang des 19. Jahrhunderts den Stadtvätern geraten haben, den Speck zu verstecken. Nur noch Gemüse sollte auf den Tisch kommen, sonntags vielleicht ein Stückchen Mettwurst oder ein Krebslein aus der Pleiße dazu. Wer dann kommt und etwas will, so die Legende, der bekomme statt Fleisch eben ein Schälchen Gemüsebrühe. Und all die Bettler und Steuereintreiber würden sich dann nach Halle oder Dresden orientieren.

Wir sehen also, dass Ernährung offenbar schon immer auch politisch war – wenn auch aus den unterschiedlichsten Motiven. Aber anders als in der Legende, legt bei uns kein Stadtvater oder Minister fest, was auf den Tisch kommt. Auch wenn manch einer anderslautende Schreckensszenarien aufmacht. Wenn da etwa Uli Hoeneß behauptet, ich wolle ihm den Zucker im Kaffee verbieten. Tatsächlich kann jeder in unserem Land seinen Kaffee trinken wie er mag – mit und ohne Milch, Zucker und Süßstoff. Herr Hoeneß kann als Wurstfabrikant seinen Kaffee auch gerne mit Schinkenwürfel trinken – seine Entscheidung. Aber welche Folgen es für Kinder, Erwachsene, die Gesellschaft und die gesamte Welt hat, was wir essen oder eben nicht essen – darüber müssen wir schon reden!

Über Schinkenwürfel im Kaffee könnte man ja noch lachen, wenn zumindest die Grenzen des Anstands eingehalten würden. Die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) hingegen hat im Sommer erklärt: "Ein grüner Ernährungsminister darf weder Bürgern vorschreiben, was sie lesen/gucken, noch Medien, was sie senden. Deutschland hat mit staatlicher Erziehung bereits zwei Mal schlechte Erfahrungen gemacht."

Der Verband hatte hinterher Gott sein Dank ein Einsehen, dass diese historische Kontextualisierung völlig deplatziert ist und hat sich entschuldigt. Aber ich habe mich natürlich schon gewundert, wie es überhaupt so weit kommen kann. Umso dankbarer bin ich all denen, die wie Sie hier in Leipzig mit Ihrer Expertise zur Versachlichung von Ernährungsdebatten beitragen! Ich sag’s mal ganz klar: Politik trifft Entscheidungen, die nicht immer einfach sind. Und gerade deshalb ist es nie ein Fehler Leuten zuzuhören, die wirklich etwas von einer Sache verstehen – und deshalb bin ich auch gerne hier.

Jeder und jede kann hierzulande essen und trinken, was er oder sie will. Aber nicht jeder, der ungesund isst, möchte das auch. Oder tut es aus freien Stücken, was besonders für Kinder gilt. Rund 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind von Übergewicht betroffen, etwa 6 Prozent davon sogar von Adipositas. Wir sprechen hier von rund zwei Millionen jungen Menschen! Und das muss man sich bewusstmachen: Übergewicht, das sich im Kindesalter ausbildet, bleibt häufig ein Leben lang bestehen. Und wenn mir da manche dünkelhaft kommen und sagen, dass gehe den Staat nichts an, dann frage ich mich, in welcher Welt diese Leute eigentlich leben. Die Erziehung ist das Recht und Pflicht der Eltern, aber selbstverständlich ist der Staat hier auch zuständig – da reicht ein Blick in Artikel 6 unseres Grundgesetzes. Schließlich gibt es auch Schulpflicht, auch ein Recht auf gewaltfreie Erziehung – auch da ist der Staat in der Verantwortung. Ohnehin ist es immer wieder bemerkenswert, wer wann nach dem Staat ruft und wann er auf ihn schimpft.

Essen und Gesundheit – natürlich ist das eine Frage der sozialen Gerechtigkeit und fairer Lebenschancen. Denn Übergewicht entwickeln Kinder oft gerade in von Armut betroffenen und armutsgefährdeten Haushalten, wo die Tische weniger vielfältig gedeckt sind, wo mehr auf die Teller kommt, was schneller satt macht und wo Eltern zuweilen mit dem Thema gesunde Ernährung überfordert sind. Und wenn mir jemand entgegnet, von Eltern so zu sprechen, sei paternalistisch, dem sage ich: Ich habe es als Kind doch selbst erlebt. Ich hatte liebevolle Eltern wie viele Kinder auch – aber sie hatten eine Menge um die Ohren. Sie konnten sich im stressigen Alltag nicht immer Gedanken machen, was jetzt gesund ist und was nicht. Und so geht es anderen Eltern doch oft auch. Meine Mutter hatte ohnehin so viel Vertrauen in den deutschen Staat, dass sie gar nicht geglaubt hätte, dass ungesundes überhaupt im Regal landet. In der Türkei, da ja, aber hier doch nicht, meinte sie.

Ich war in diesem Jahr in der Adipositas-Ambulanz der Charité für Kinder, um mich aus erster Hand zu informieren. Und auch um klar zu machen, dass das auch unsere Kinder sind, dass wir sie nicht abschreiben. Betroffen gemacht hat mich die Aussage der Ärzte, sie betreuten nur einen Bruchteil der Kinder, die es eigentlich nötig hätten! Jeder, der in diesem Land politische Verantwortung trägt, muss sich daran messen lassen, die Perspektiven der Kinder zu verbessern – ungeachtet aller Widerstände, mit denen wir dabei konfrontiert sind.

Und deshalb lasse ich hier auch nicht locker: Im besten Fall sorgen wir dafür, dass Kinder gar nicht erst Übergewicht entwickeln, das sie dann als Bürde mit durch ihr Leben schleppen. Die Eltern tragen hier Verantwortung, die gesamte Gesellschaft und der Staat auch. Ich wurde in diese Gesellschaft auch in den Wohnzimmern der deutschen Mittelschicht integriert. Ich war bei Freunden zu Besuch, bei ihren Eltern und Großeltern. Die haben sich um mich gekümmert – ich glaube, es hat mir nicht geschadet. Die Zukunft der Kinder in unserem Land geht uns wirklich alle an.

Und deshalb haben wir im Koalitionsvertrag beschlossen, dass wir an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung einschränken. Wie wichtig es ist – anders als manche gerne behaupten - diese Stellschraube der Werberegeln zu nutzen, haben Sie, Frau Prof. Boyland, eindrücklich gezeigt. Und natürlich ist Werbung nur ein Baustein, es braucht mehr – natürlich auch mehr Bewegung. Aber das eine zu tun heißt ja nicht, das andere zu lassen. Das erinnert mich an ein Zitat des früheren US-Präsident Lyndon B. Johnson. Der hat über einen politischen Konkurrenten einmal gesagt: "He is so dumb – he can’t fart and chew gum at the same time". Anders gesagt und weniger derb: Menschen können das eine tun, ohne das andere zu lassen!

Sie wissen, dass wir einen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Wir haben in der Zwischenzeit erste Anpassungen vorgenommen. Natürlich geht es auch darum, Kompromisse zu ermöglichen, damit alle Koalitionspartner den Entwurf mittragen können. Unser Ziel bleibt aber klar: Alle Kinder sollen die Chance haben, gesund groß zu werden – möglichst unabhängig von Herkunft und Elternhaus! Wir wollen Kinder schützen und Eltern stärken. Mit fairen Regeln. Noch steckt der Entwurf in der Ressortabstimmung. Manch einem dauert das zulange. Mir auch. Mir ist wichtig, dass wir schnell mit einem ressortabgestimmten Entwurf in die Länder- und Verbändeanhörung und ins parlamentarische Verfahren gehen. Dort können sich alle konstruktiv einbringen, damit wir zu einem Gesetz kommen, das uns vorwärtsbringt. Aber klar ist, dass wir in dieser Regierungskonstellation ohne Kompromisse nicht zu einem Ergebnis kommen werden – da möchte ich Ihnen an dieser Stelle nichts vormachen.

Aber ein Kompromiss bedeutet nicht, dass man faktenfrei alles in den Topf werfen kann. In unserer Demokratie muss es immer darum gehen, mit guten Argumenten für seine Position zu werben. Gerade heute, wo mit kruden Infos gern verantwortungslos Stimmung gemacht wird, braucht es mehr denn je sachliche Informationen. Da ergeben zwei Halbwahrheiten ganz schnell eine ganze Lüge. Da sind wir alle gefordert gegenzuhalten – und da braucht es unbedingt auch weiterhin Ihre laute Stimme in den Medien, auch in den sozialen Medien. Herr Huizinga macht es vor, wenn er auf Twitter Falschaussagen faktenbasiert entlarvt. Ohnehin finde ich, dass manche Verbände ihre eigenen Unternehmen unter Wert verkaufen. Ich habe ja kürzlich auf der weltgrößten Lebensmittelmesse der Anuga erlebt, wie viele neue Wege gehen, indem sie innovativ sind und auf weniger Zucker, Fett und Salz setzen. Die können das, wenn sie wollen und wenn sie müssen – und werben können sie für diese Produkte in unseren Medien auch.

Apropos Medien: Gerade, weil es in diesen Zeiten auch ganz grundsätzlich um unsere Demokratie geht, brauchen wir auch lokale und regionale Zeitungen, das Radio, die Vielfalt der Medien. Denn auf verlässliche Informationen und eine ausgewogene Berichterstattung kommt es besonders in Zeiten von bewusster Desinformation und zunehmender Polarisierung an – sie sind geradezu systemrelevant. Und natürlich nehme ich daher auch die Sorgen um Finanzierung und Werbeeinnahmen ernst. Auch die Sorgen des Bäckers, der um seine Gebäckauslage fürchtet. Oder die der Sportvereine im Land, die sich fragen, was es für das Sponsoring bedeutet – und Sportvereine leisten ja auch wertvolles für unsere Kinder und deren Gesundheit. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir sowohl diesen Sorgen gerecht werden als auch die Lebenschancen unserer Kinder verbessern können. Ich habe mich schon bewegt und erwarte, dass sich jetzt auch andere bewegen, damit das Ganze nicht noch länger in der internen Ressortabstimmung verharrt – sondern dorthin kommt, wo es hingehört: nämlich ins Parlament vor die Augen der Öffentlichkeit.

Wir sind uns sicher einig: Ein Gesetz allein macht noch keine gesunde Ernährung. Es ist aber ein wichtiger Baustein von einer Vielzahl an Maßnahmen, die wir als Gesellschaft angehen müssen. Ich habe dazu den Entwurf für die Ernährungsstrategie der Bundesregierung vorgelegt. Kinder brauchen Bewegung – Schulsport ist wichtig und muss vor allem auch stattfinden. Kinder sollten in Kita oder Schule täglich ein gutes warmes Essen bekommen – am besten direkt vor Ort frisch zubereitet in der eigenen Küche mit saisonalen, regionalen und Bio-Zutaten. Zudem braucht es zeitgemäße Bildungsangebote, wie gutes, gesundes und nachhaltiges Essen aussieht. Und nicht zuletzt spielt auch der Gesundheitssektor und insbesondere eine kompetente Beratung eine wichtige Rolle. Um die Qualifikation zur Prävention und Behandlung ernährungsassoziierter Erkrankungen zu verbessern, haben wir u.a. ein Forschungsvorhaben zur Ernährungsbildung von Medizinern und Fachpersonal initiiert. Ich sage es auch hier gerne noch einmal: Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen. Nur so kommen wir auch voran. Der Soziologe Ralf Dahrendorf sagte einmal treffend: Eine Bildungsrepublik kann an einem Mittagessen scheitern. Denn zur Freiheit gehört, gleiche Chancen für alle zu schaffen und zwar unabhängig davon, ob die Eltern reich oder arm sind.

Mein Appell an Sie: Bringen Sie sich bitte weiterhin mit Ihrem geballten Wissen und ihrer großen Glaubwürdigkeit in die Debatte ein – in Ihren Praxen, aber auch gerne darüber hinaus. Es werden viele Infos verbreitet, das kann verwirren, es braucht Orientierung – und da braucht es Sie! In diesem Sinne: Lassen Sie uns daran arbeiten – im Wissen, dass das kein Sprint, sondern ein Marathon ist!

Ich freue mich auf den Austausch mit Ihnen.

Erschienen am im Format Rede

Ort: Leipzig


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