Landwirtschaft zukunftsfest zu machen, bedeutet auch, unsere ländlichen Räume zu stärken

Rede von Bundesminister Cem Özdemir zur Eröffnung des 17. Zukunftsforums Ländliche Entwicklung am 24. Januar 2024 in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

in letzter Zeit muss ich häufiger an Paul Watzlawicks Buch "Anleitung zum Unglücklichsein" denken. Dort erzählt Watzlawick von einem Mann, der alle zehn Sekunden in die Hände klatscht. Und auf die Frage, warum er das tut, erklärt er: "Um die Elefanten zu verscheuchen." Als man ihm sagt, es seien gar keine Elefanten zu sehen, entgegnet der Mann: "Na also! Sehen Sie". Das ist ein schönes Beispiel, um zu veranschaulichen, wie Menschen sich ihre eigene Wirklichkeit konstruieren. Und es veranschaulicht, dass wir als Gesellschaft ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit brauchen, um uns zu verständigen. Wir müssen darauf vertrauen können, dass uns bei allen Meinungsverschiedenheiten hinweg mehr verbindet als trennt. Und genau dieses Verbindende habe ich auf dem Land erfahren, wo ich aufgewachsen bin. Wir finden dieses Verbindende im Handballverein. In den Kirchengemeinden. Den Freiwilligen Feuerwehren. Im Chor.

Ich wollte meine verstorbene Mutter einst in meine Nähe holen, aber sie wollte unbedingt in Bad Urach bleiben. Da gratuliert mir doch niemand zum Geburtstag, meinte sie. Und legte dann nach: Zuhause gratulieren mir alle! Man sollte weder das Leben auf dem Land noch in der Stadt romantisieren. Die Realität ist vielschichtig. Aber das Leben auf dem Land bedeutet, in einer Gemeinschaft zu leben. Nicht anonym zu bleiben, sondern sich miteinander auseinanderzusetzen, sich zu kümmern und pragmatisch zu sein. Das, meine Damen und Herren, nenne ich einen echten Standortvorteil – und zwar einen, den wir stärken müssen.

Ich freue mich, heute viele Vertreterinnen und Vertreter dieses lebendigen Landlebens hier begrüßen zu können: Herzlich Willkommen beim 17. Zukunftsforum Ländliche Entwicklung! Im Fokus unseres diesjährigen Zukunftsforums steht die regionale Wertschöpfung. Damit meinen wir ausdrücklich auch die soziale Wertschöpfung.

Im ländlichen Raum engagieren sich überdurchschnittlich viele Menschen ehrenamtlich. Sie stärken damit unsere Demokratie. Und genau das brauchen wir gerade, weiß Gott, mehr denn je. Gerade Ehrenamtliche schaffen die eben erwähnte Gemeinschaft über Unterschiede hinweg und damit die Grundlage für echte Verständigung! Ich kann den ehrenamtlich Engagierten an dieser Stelle gar nicht genug danken – sie machen unsere Demokratie erst wirklich lebendig! Herzlichen Dank!

Wie stark der dadurch erzeugte Zusammenhalt ist, hat sich zuletzt in den Hochwasser- und Überschwemmungsgebieten gezeigt. Unzählige Bürgerinnen und Bürger waren bei Eiseskälte und Dauerregen Tag und Nacht im Einsatz. Auch sehr viele Landwirtinnen und Landwirte mit ihren Treckern und Maschinen. Wenn der Nachbar in Not ist, dann wartet man nicht auf den Staat, dann hilft man.

Diese Hilfsbereitbereitschaft ist der wahre Reichtum unseres Landes. Doch dieser Reichtum ist gefährdet, wenn er von antidemokratischen Kräften geplündert wird. Diese Gefahr ist mancherorts schon bittere Realität. Wir haben es jüngst bei der Ausschreibung für ehrenamtliche Schöffinnen und Schöffen gesehen. Hier wurde in rechtsextremen Netzwerken explizit dazu aufgerufen, sich zu bewerben. Unsere Demokratie muss wehrhaft sein – und eine engagierte Bürgergesellschaft ist das beste Mittel gegen das Sickergift der Demokratiefeinde.

Wir sehen das gerade bei den bundesweiten Demonstrationen für die Demokratie und gegen Rechtsextremismus. Überall im Land stehen die Menschen auf, um unsere Demokratie zu verteidigen.
Ich verstehe diese Demonstrationen auch als Appell an die Regierung. Streit gehört zum Wesen der Politik, aber die Menschen haben ein feines Gespür, ob eine Auseinandersetzung konstruktiv ist und zu einem guten Ergebnis führt. Wir können und müssen es besser machen. Das bedeutet, auch immer zu hinterfragen, aus welcher Perspektive politische Probleme gedacht werden – zu häufig aus einer städtischen.

Das Deutschlandticket ist eine tolle Sache für Menschen, die in einem gut ausgebauten Nahverkehrsnetz unterwegs sind. In einem Dorf in Ostbayern, wo zweimal am Tag ein Bus kommt, ist so ein Angebot nicht ganz so attraktiv. Wohnungsbau ist für die Städte ungemein wichtig. In so manchem Dorf sind Leerstand und Ortskern-Verödung das Problem. Auf dem Land gibt’s andere Herausforderungen als in der Stadt. Und die Menschen müssen darauf vertrauen können, dass wir das auf dem Schirm haben.

Zugleich gibt auch nicht "das Land" – ländliche Regionen sind sehr vielfältig, auch dem müssen wir besser gerecht werden. Wir haben prosperierende Regionen, aber auch welche, die von Abwanderung, Alterung und Defiziten bei der Grundversorgung geprägt sind.

Wenn Geschäfte, Schulen und Arztpraxen schließen; wenn Verwaltung nicht mehr präsent ist; wenn der Leerstand zunimmt und Ortskerne veröden – dann verändert sich auch das Verhältnis der Menschen zu ihrem Land. Daraus kann Politikverdrossenheit entstehen, daraus können sich Ressentiments entwickeln, darunter kann auch die Identifikation mit unserer Demokratie leiden. Deshalb ist es im Interesse der gesamten Republik, dass die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse immer an erster Stelle steht. Ein Start-up, das im ländlichen Raum investieren will, braucht dieselben Startvoraussetzungen wie in der Stadt – ob es nun um Mobilität und Internet geht oder um Kindergärten und Schulen. Auch daran muss sich jede Bundesregierung und jede Landesregierung messen lassen.

Man muss auch aufpassen, welches Bild man von den ländlichen Regionen zeichnet. Gerade aus städtischer Perspektive kann man sich da verheben – von wegen Provinz und Hinterland. Unsere ländlichen Räume tragen mit 46 Prozent der Bruttowertschöpfung erheblich zum Erfolg und zur Stabilität unserer Wirtschaft bei. Neben landwirtschaftlichen Betrieben gibt es eine Fülle an Kleinunternehmen und Mittelständlern mit einer breiten Palette an Produkten und Dienstleistungen: vom Aktivtourismus bis zum Zulieferer.

Hier sind auch die "Hidden Champions" zuhause, Weltmarktführer in Nischenmärkten, die auf ihrem Gebiet herausragende Leistungen vollbringen. Und dazu gehören die Handwerksbetriebe: Kein städtisches Bauprojekt wäre möglich ohne die Unterstützung vom Land. Hier wie dort haben die Menschen großartige Ideen, von denen unser ganzes Land profitiert. Es ist ja nicht nur so, dass unser aller Essen in ländlichen Räumen erzeugt wird – das gilt ebenso für erhebliche Anteile erneuerbarer Energien. Wichtig ist, dass die Menschen vor Ort auch fair von dieser Wertschöpfung profitieren.

Da sind wir politisch gefordert, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Bei allem, was wir heute und künftig diskutieren, sollten wir immer im Hinterkopf haben: Stadt und Land brauchen einander! Wir sehen in den USA, wie tief die Kluft zwischen Land- und Stadtbevölkerung sein kann. Das sollte uns eine Warnung sein. Das Verbindende zwischen Demokraten ist immer stärker als das Trennende. Und das Verbindende zwischen Stadt und Land ist ebenfalls sehr viel stärker als das Trennende! Ich wünsche uns allen ein erfolgreiches, erkenntnisreiches Zukunftsforum.

Hiermit erkläre ich das 17. Zukunftsforum Ländliche Entwicklung für eröffnet!

Erschienen am im Format Rede

Ort: Berlin


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