Der Staat soll sich so wenig wie möglich und so viel wie nötig einmischen
Rede von Bundesminister Cem Özdemir auf der ZEIT Konferenz Gesunde Zukunft am 10. April 2024 in Berlin
Es gilt das gesprochene Wort!
Anrede,
es ist wichtig, dass wir über die Rolle des Staates für eine gesunde und nachhaltige Ernährung sprechen. Was wir essen, ist Privatsache. Jede und jeder kann essen, was sie oder er will. Aber gleichzeitig hat Essen eine soziale Dimension. Ich würde es nicht so drastisch formulieren wollen, wie ein Ernährungsmediziner, der im Zusammenhang mit hoch verarbeiteten Lebensmitteln kürzlich von "gesellschaftlichem Sprengstoff" gesprochen hat. Und dennoch ist klar, dass Ernährung Lebenschancen beeinflusst.
Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: In Deutschland sind mehr als die Hälfte der Erwachsenen übergewichtig. Außerdem sind fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche von Übergewicht und Adipositas betroffen. Wenn wir über Übergewicht und Adipositas, über Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sprechen, geht es immer auch um Lebenschancen, um Fairness. Denn man muss sich bewusstmachen: Übergewicht, das sich im Kindesalter ausbildet, bleibt häufig ein Leben lang bestehen. Vergangenen Sommer konnte ich mir in der Adipositas Ambulanz für Kinder an der Charité einen Eindruck davon machen, was das für den Alltag der Heranwachsenden bedeutet. Studien zeigen, dass es häufig Kinder in von Armut betroffenen und armutsgefährdeten Haushalten sind, die Übergewicht entwickeln. Außerdem wissen wir: Nicht alle Menschen, die ungesund essen, möchten das auch.
Jetzt stellt sich die Frage: Welche Rolle kann der Staat überhaupt spielen, wenn es um etwas so Persönliches wie unser Essverhalten geht? Ich bin ganz grundsätzlich der Meinung: Der Staat soll sich so wenig wie möglich und so viel wie nötig einmischen. Und wenn es um das "so viel wie nötig" geht, sind wir schnell beim Schutz unserer Kinder. Wir alle tragen Verantwortung dafür, dass Kindern ein gesunder Start ins Leben ermöglicht wird. Die Erziehung ist das Recht und die Pflicht der Eltern, aber selbstverständlich hat auch der Staat hier eine Verantwortung. Auch das meinte der Soziologe und Liberale Ralf Dahrendorf, als er sagte: "Eine Bildungsrepublik kann am Mittagessen scheitern." Und auch die Empfehlungen des Bürgerrats Ernährung gehen in diese Richtung.
Ist das also grundsätzlich geklärt, geht es um die Frage, welche Maßnahmen sinnvoll sind, damit der Staat seiner Verantwortung gerecht wird. Ihre Kommentare, Herr Schweitzer, lassen erahnen, wie Sie zu Werbeverboten, Zuckersteuer und Co. stehen. Die Zeile "Was krank macht, muss mehr kosten" lässt wenig Interpretationsspielraum. Ich verstehe diesen Ansatz – die Frage ist, ob er auch durchsetzbar ist. Man muss ja in der Politik nicht nur Recht haben, sondern auch Recht bekommen. Fehlende Mehrheiten sind aber noch lange keine Rechtfertigung, um die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu machen.
Deshalb versuchen wir es für alle leichter zu machen, sich gut zu ernähren, wenn sie es wollen. Ich bin wohl nicht der einzige, bei dem an einem stressigen Tag manchmal der Heißhunger über die Vernunft siegt − und ein oder zwei Schokoriegel vernichtet werden. Das ist okay, aber wenn ein Apfel in Sichtweite wäre, könnte die Wahl auch anders ausfallen. Dann wäre es überhaupt erst eine echte Wahl. Auf die Ernährungspolitik übersetzt heißt das: Wir müssen an das ran, was die Expertinnen und Experten als "Ernährungsumgebung" bezeichnen. Und in diesem Sinne haben wir die Ernährungsstrategie der Bundesregierung "Gutes Essen für Deutschland" erarbeitet, die im Januar vom Kabinett beschlossen wurde. Es ist eine Strategie des Ermöglichens, der echten Wahlfreiheit. Kindern soll in Kita oder Schule gutes Essen angeboten werden, das ihnen schmeckt: mit saisonalen, regionalen und Bio-Zutaten. Zudem braucht es zeitgemäße Bildungsangebote, wie gutes, gesundes und nachhaltiges Essen aussieht.
Auch der Gesundheitssektor und insbesondere eine kompetente Beratung spielen eine wichtige Rolle. Deshalb haben wir zum Beispiel ein Forschungsvorhaben zur Ernährungsbildung von Medizinern und Fachpersonal initiiert.
Und natürlich müssen wir auch über Werbung sprechen, wenn es um die Ernährungsumgebung und die Prävention von Übergewicht geht. Denn auch wenn der ein oder andere in der Wirtschaft das nicht gerne hören: In der Regel wird Werbung für jene Lebensmittel geschaltet, die eben nicht zum gesunden Großwerden beitragen. Der wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz hat 2020 in einem Gutachten zum Beispiel festgestellt, dass "Werbeausgaben bei stärker verarbeiteten Produkten wie Süßwaren um ein Vielfaches höher sind als bei unverarbeiteten Grundnahrungsmitteln". Wir alle wissen, wieso: weil hier eine hohe Gewinnspanne lockt.
Wir haben daher aus guten Gründen im Koalitionsvertrag beschlossen, dass wir an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung einschränken − und dazu einen Gesetzesentwurf vorgelegt. Man braucht kein Insiderwissen, um zu erkennen, dass wir in dieser Regierungskonstellation beim Kinderschutz in der Werbung nicht ohne Kompromisse zu einem Ergebnis kommen werden. Wichtig ist aber, dass wir am Ball bleiben. Die Gespräche zum Gesetzesentwurf laufen. Ich habe die nötige Geduld und Hartnäckigkeit. Mir ist dabei auch bewusst, dass es Kärrnerarbeit ist, Gewohnheiten zu durchbrechen. Aber heute kommt schließlich auch keiner mehr auf die Idee, sich im Restaurant eine Zigarette anzuzünden. Oder den Nachwuchs bei langen Autofahrten ohne Gurt und Kindersitz auf der Rückbank schlafen zu lassen. Aber sowohl das Rauchverbot als auch die Gurtpflicht waren umstritten.
Und ich habe die Hoffnung, dass wir in ein paar Jahren so auch die Debatte über den Schutz von Kindern bei Werbung sprechen werden. Dass irgendwann mal jemand hier an dieser Stelle stehen und sagen wird: Das war früher so − und die fanden das völlig normal.
Natürlich sind auch Bewegung und Bildung wichtig. Aber das bedeutet dann, dass man das eine tun kann, ohne das andere zu lassen. Ich behaupte nicht, dass ein Gesetz allein das Problem löst. Aber es ist ein wichtiger Baustein. Der Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung ist eine von verschiedenen ernährungspolitischen Maßnahmen, die aufeinander abgestimmt sind und ineinandergreifen. Zum Beispiel haben wir unseren Modellregionenwettbewerb "Ernährungswende in der Region" gestartet.Die große Resonanz auf unseren Skizzenaufruf hat gezeigt: Viele Menschen sind hoch motiviert, neue Wege zu für eine gute und nachhaltige Ernährung einzuschlagen. Wir haben den Nutri-Score auf wissenschaftlicher Grundlage gemeinsam mit allen Nutri-Score-Staaten weiterentwickelt. Und wir setzen uns auf EU-Ebene weiterhin für einen EU-weit einheitlichen und zudem verpflichtenden Nutri-Score ein.
Außerdem arbeiten wir gemeinsam mit der Wirtschaft und mit Unterstützung der Wissenschaft daran, dass die Rezepturen von Lebensmitteln gesünder werden. Weniger Zucker, weniger ungünstige Fette, weniger Salz − darum geht es. Denn auch das Angebot im Supermarktregal spielt eine Rolle, wenn wir über die Verbesserung von Ernährungsumgebungen sprechen. Im Herbst 2023 wurde dazu unter Leitung des Max Rubner-Instituts ein Prozess mit Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft gestartet, in dem Methoden für die Ableitung von Reduktionszielen erarbeitet werden. Endes dieses Jahres sollen für relevante Lebensmittelgruppen dann Reduktionsziele vorliegen. Damit wird eine objektive und wissenschaftlich fundierte Grundlage für weitere Reformulierungen geschaffen, die wir mit Nachdruck bei der Wirtschaft einfordern werden. Und nicht zuletzt haben wir die Bio-Strategie 2030 vorgestellt, den Weg für ein Bio-Logo für die Außer-Haus-Verpflegung freigemacht und die staatlich verpflichtende Tierhaltungskennzeichnung ist beschlossen.
Man sollte auch nicht vergessen: Gesellschaftliche Debatten wie die um eine Zuckersteuer oder den Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung fallen nicht vom Himmel. Sie werden auch nicht von einem grünen Ernährungsminister aus dem Boden gestampft. Gerade im Bereich der Ernährung findet schon längst ein gesellschaftlicher Wandel statt. Und dieser Wandel schlägt sich längst auch den Regalen nieder. Die Wirtschaft bewegt sich schrittweise in die richtige Richtung − auch deshalb, weil sich das Konsumverhalten ändert und neue Märkte entstehen.
Konferenzen wie die heutige leisten dazu einen Beitrag, denn sie schärfen das Bewusstsein für bestehende Herausforderungen und unterstreichen die notwendigen Veränderungen. Aufgabe der Politik ist es, die vorhandenen positiven Entwicklungen mit sinnvollen Maßnahmen zu begleiten und voranzutreiben. Und genau das tun wir.
Vielen Dank!
Ort: Berlin